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Deutsch sein und Jude

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Woran liegt es, daß das Gewissen der Völker — „beunruhigt durch das unerklärliche Noch-immer-Existieren des Juden“, den sie „vernichtet, verbrannt, verkommen glaubten“ — immer wieder aufflammt?

Jakob Wassermann, berühmt geworden durch seine Romane „Die Juden von Zirndorf“ (1897), „Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens“ (1908), „Das Gänsemännchen“ (1915), „Christian Wahnschaffe“ (1919) sowie durch die Trilogie „Der Fall Maurizius“ (1928), „Etzel Andergast“ (1931) und „Joseph Kerkhovens dritte Existenz“ (1934) ist zeitlebens auf der Suche nach den Ursachen dieses Phänomens.

Mit der ihm eigenen psychologischen Gründlichkeit,

mit der er sich mit den Protagonisten seiner Werke auseinandersetzt, „gedrängt von innerer Not und Not der Zeit“, ringt er unter verschiedenen Gesichtspunkten um eine Analyse des Juden, dessen größte Tragik er darin sieht, „daß er zwei Gefühle in seiner Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung“.

Sein Rechenschaftsbericht „Mein Weg als Deutscher und Jude“, seine „Selbstbetrachtungen“, in denen er seinen literarischen Werdegang schildert, und sein Rückblick „Meine Landschaft, äußere und innere“ erlauben tiefe Einblicke in die Persönlichkeit und in das Selbstverständnis des Schriftstellers* der sich unter vielen Entbehrungen und über weite Strecken der Einsamkeit und Mißverständnisse aus der kleinbürgerlichen Enge zu einem der meistgelesenen Autoren seiner Zeit emporgearbeitet hat.

Er bekennt, daß er „zurückgeworfen und isoliert unter dreifach erschwerenden Umständen“ leben müsse: „als Literat; als Deutscher ohne gesellschaftliche Legitimation; als Jude ohne Zugehörigkeit“. Obwohl Wassermanns Vorfahren seit etwa fünfhundert Jahren in Deutschland ansässig waren, fühlt er „sich fremd unter Fremden im fremden Land“.

In seinen Stellungnahmen zur Gegenwartsliteratur in „Entwicklungszüge des modernen Romans“ sieht er das „entscheidende geistige Ereignis in der erzählenden Literatur jener Tage... in dem Durchbruch zur Wirklichkeit“, wobei die Juden „geistige Pioniere gewesen“ sind.

In den sehr bemerkenswerten Texten Wassermanns wird nicht nur der Wunsch nach Versöhnung unter den Menschen spürbar, sondern auch eine große Bangigkeit, deren Berechtigung grauenvoll bewiesen wurde und immer noch bewiesen wird: „Es ist mir, als wäre nur bei den Toten Gerechtigkeit zu finden gegen die Lebenden.“

Die von Dierk Rodewald mit einem wertvollen Kommentar versehenen Reden und Schriften enthalten bis auf wenige Ausnahmen alle Äußerungen Jakob Wassermanns zum Judentum. Ein wichtiges Buch, das alle angeht!

DEUTSCHER UND JUDE. Reden und Schriften 1904-1933. Von Jakob Wassermann. Hrsg. Dierk Rodewald. Verlag Lambert Schneider GmbH, Heidelberg. 296 Seiten, öS 43630.

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