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Elend unter rranco

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Niemand kann bestreiten, daß das Lebensniveau der Spanier sich in den letzten Jahren bedeutend gebessert hat, daß sie besser gekleidet, besser ernährt sind und besser wohnen. Daß dies noch lange nicht für alle sozialen Klassen ein Auskommen, geschweige denn Wohlstand bedeutet, ist auch -unbestritten. Nach der Mitte März vorgenommenen Mindestlohnerhöhung auf 136 Peseten pro Arbeitstag gaben selbst Offizielle unumwunden zu, daß dieser Lohn unzureichend ist.

In welcher Lage sich aber ein Teil der spanischen Arbeiter tatsächlich befindet, wurde jetzt durch einen Bericht der Madrider Arbeiterbruderschaften der Katholischen Aktion offenbar, der sich größtenteils auf offizielle Statistiken stützt. Laut Angaben der „Acciön Social Patronai“ (Soziale Arbeitgeberaktion) benötigt eine vierköpfige Familie ein Mindestjahreseinkommen von 119.650 Peseten. Das Nationale Statistikinstitut gibt aber im dritten Trimesterbericht für 1970 (bei einem Achtstundentag) als Durchschnitts jahreslohn für ungelernte Arbeiter 65.000 Peseten, also eigentlich nur die Hälfte des Lebensminimums an.

Das gleiche Institut erklärte, daß 61 Prozent der Lohnempfänger pro Monat weniger als 7000 Peseten, Zulagen eingeschlossen, erhalten, und daß nur 17 Prozent die Mindestgrenze von 10.000 Peseten pro Monat erreichen. In einigen Beschäftigungszweigen, wie dem Bausektor, bleiben 93 Prozent der Arbeiter unter diesem Minimum.

Es ist klar, daß der Verdienst eines ungelernten Arbeiters, der acht Stunden pro Tag arbeitet, unmöglich zum Unterhalt seiner Familie reicht. Es bleibt ihm kein anderer Ausweg offen, als mehr zu arbeiten. Der in diesem Jahr erschienene soziologische Bericht des Instituts zur Förderung sozialer Studien und angewandter Soziologie (Foessa) erklärt, daß 54 Prozent der gelern ten und 51 Prozent der ungelernten Arbeiter Madrids durchschnittlich zehn Stunden täglich arbeiten.

Ebenso negativ fallen die Angaben über die Wohnverhältnisse der Madrider Arbeiter aus: Foessa fand heraus, daß 62.868 Familien in Untermiete oder mit anderen Familien zusammenwohnen, 18.367 in Notunterkünften hausen und 85.000 in Behausungen aus dem vorigen Jahrhundert, die der Mindestbedingungen entbehren. Insgesamt leben also 166.000 Familien unter unmenschlichen oder äußerst unzureichenden Bedingungen. 700.000 Personen, fast ein Viertel der Madrider Bevölkerung, sind von diesem Schicksal betroffen.

In Spanien gibt es derzeit ungefähr 250.000 Beschäftigungslose. Bei einer Beschäftigtenzahl von ungefähr 13 Millionen ist dieser Anteil gering und dürfte kein soziales Problem bedeuten. Zieht man jedoch in Betracht, daß nicht alle Arbeitslosen Recht auf Arbeitslosenunterstützung haben und daß die Versicherten außerdem nur 75 Prozent des Grundlohns bekommen, erhält das optimistische Bild eine dunkle Schattierung. Denn nach, Inkrafttreten des neuen Mindestlohns bezieht ein ungelernter Arbeiter nicht einmal 3000 Peseten monatlich Arbeitslosenunterstützung.

Ein ebenso dunkles Bild stellt die Zahl der Arbeitsunfälle dar. Während 1930 auf 10.000 Arbeitnehmer 19 Unfälle entfielen, waren es 1967 bereits 80, also insgesamt über eine Million. 1112 Unfälle verliefen tödlich.

Ein weiteres trauriges Kapitel, das in dem Bericht der Arbeiterbruderschaften untersucht wird, ist die Erziehung der Arbeiterkinder. Zwar wurden seit Inkrafttreten der beiden Entwicklungspläne Tausende von Schulen gebaut, aber die durch die Landflucht erzeugte demographische Umschichtung hat den Schulnotstand vertieft. So fanden 1968 über 600.000 Kinder im schulpflichtigen Alter keine Schulen.

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