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Des alten Rußland christliche Rebellen

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Tolstoj und Dostojewskij als christliche Dichter begreifen zu wollen, ist ein utopisches Beginnen. Der evangelische Theologe Martin Doerne, der bis 1953 systematische Theologie an der Universität Halle las und von 1954 bis zu seiner Emeritierung 1968 den Lehrstuhl für praktische Theologie in Göttingen innehatte, ist sich dieser Tatsache wohl bewußt.

Er sieht in beiden Dichtern eine bisher wenig genutzte Orientierungshilfe für die gegenwärtige Selbstüberprüfung der christlich-kirchlichen Tradition. Als Zeugen für die Richtigkeit dieser Meinung ruft er vor allem Albert Camus auf, der im Vorwort zu seinen „Dramen“ meinte, nicht Karl Marx, den man „lange Zeit für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten“ habe, sei der wahre Prophet dieses Jahrhunderts gewesen. Man wisse heute, daß seine Prophezeiung auf sich warten lasse. Der wahre Prophet sei vielmehr Dostojewskij, der die „Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorhergesehen“ und „lange vor Nietzsche den zeitgenössischen Nihilismus erkannt“ habe. Zum anderen beruft sich Doerne auf Thomas Mann, der die seltsame Vermutung ausgesprochen hat, der erste Weltkrieg hätte „es nicht gewagt auszubrechen, wenn im Jahre 1914 die scharfen, durchdringenden Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären.“ Thomas Manns auf Tolstoj bezogene Vorstellung von der „Epoche, in welche der leitende, entscheidende und erhellende, sozial sich bindende und dienende Geist dem objektiven Genie, das Sittliche und Intelligente dem unverantwortlich Schönen voranstehen muß“, wird von Doerne zum Ausgangspunkt für das Verständnis des christlichen Phänomens Tolstoj gemacht.

Doerne sieht in beiden Dichtern Modelle möglicher christlicher Haltung in der Welt. Dabei geht es ihm offenbar nicht um die sich anbietende vereinfachende Antithese: Dostojewskij als Muster einer jugendlich schwärmerischen freien Beziehung zu Christus, die im Dienst an den „Erniedrigten und Beleidigten“ ihre Erfüllung findet und dennoch allmählich einbezogen wird in eine starre politisch-hierarchische Kirchlichkeit, deren wesentliches Charakteristikum in der Freundschaft mit dem Oberprokurator des Heiligen Synods K. Pobedonszow gesehsn werden mag; Tolstoj dagegen als Modell der Befreiung aus kirchlicher Umgrenztheit in einer buchstäblichen Nachfolge Christi durch Selbstentäußerung und manchmal recht primitiv zum Ausdruck gebrachte Bruderliebe, die ihre letzte Konsequenz in der Exkommunikation, dem völligen Ausscheiden aus dem kirchlichen Bereich, findet. Doerne ist an dieser Antithese, die er durchaus sieht und in der Darstellung auch nützt, nur am Rande interessiert. Ihm geht es um das Gemeinsame in diesen beiden Figuren, um das Verbindende in der Utopie des „Bergpredigt-Christentums“, das — wenn auch verschieden schattiert — das Werk Dostojewskij s ebenso bestimmt wie das seines Altersgenossen Tolstoj. Dostojewskij verstand die Kirche als „Vorform des Reiches Gottes“, Tolstoj als dessen „diabolische Gegenmacht“. Letzterer erwartete das „inwendige Gottesreich“, ersterer die „brüderliche allmenschliche Vereinigung nach dem Gesetz Christi“. In dieser Erwartung sieht Doerne die beiden Dichter, die einander physisch nie begegnet sind, in engster Verbundenheit. Er sieht sie aber auch in dieser Zukunftshoffnung am Anfang moderner Reformideen und an der Wurzel der „Ansätze zu einer soziologisch imprägnierten Neuformierung des reflektierten christlichen Selbst- und Weltbewußtseins“, das derzeit die konservativen Kräfte in beiden Kirchen beunruhigt.

„TOLSTOJ UND DOSTOJEWSKIJ, ZWEI CHRISTLICHE UTOPIEN.“ Von Martin Doerne. VR Kleine Vandenhoeck-Reihe, Verlag Vanden-hoek & Ruprecht in Göttingen, 197 Seiten, DM 7.80.

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