Das Ergebnis des ersten Wahlgangs der Bundespräsidentenwahl ist ein historischer Bruch in der österreichischen politischen Entwicklung. Manche atmen auf, andere fühlen Beklemmung. Setzt sich die Tendenz der letzten Monate fort, ist es möglich, dass die Gesellschaft wieder jene extreme Polarisierung zwischen linken und rechten Kräften erfährt, unter der sie bereits einmal unsäglich gelitten hat.
Wenn der Wahlkampf bis zur Stichwahl nicht besonnen geführt wird, ist eine Radikalisierung der politischen Positionen zu befürchten, die im Triumphgeheul der Siegreichen eine nachhaltige Verletzung der anderen Seite auslösen wird. Diese unerfreuliche Situation ist aus meiner Sicht Ergebnis einer Politik, die ignoriert, dass die Mehrheit der Bürger andere Sorgen hat und andere Positionen vertritt, als es artikulationskräftige Teile der Gesellschaft für wünschenswert erachten. Dass an den rechten Rand driftet, wer in der Mitte nicht ernst genommen wird, darf nicht verwundern. Wähler auszugrenzen war und ist kein ethisches Verdienst, sondern politisches Versagen im demokratischen Diskurs.
Nicht wenige Bürger werden in einer solchen Entwicklung freilich heimatlos: Sie fühlen sich weder von jenen vertreten, die gegen Fremde hetzen, noch schätzen sie Politik, die Probleme mit Fremden ignoriert; sie fühlen sich weder bei sozialistischen Vorstellungen noch im schrankenlosen Liberalismus wohl; "links" und "rechts" sind für sie keine passenden Kategorien.
Vielleicht gelingt es ÖVP und SPÖ, aus der Wahl die Lehren zu ziehen. Mut und Demut sind angesagt: Mut, die Sorgen der Bürger ernst zu nehmen, ohne ihre Ängste zu verstärken; Demut, sich aus der Auseinandersetzung um die Stichwahl herauszuhalten, um nicht die Polarisierung zu verschärfen. Arbeit gibt es für die Regierungsparteien bekanntlich genug!
Der Autor ist Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Leiter des Instituts für Familienforschung
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