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Walter Benjamnins Essay "Kapitalismus als Religion" wird zur Zeit neu entdeckt. Eine gefährliche Renaissance.

Walter Benjamin - Ikone philosophischer Gnosis bzw. negativer Theologie - wird zur Zeit als Kronzeuge der religionskritischen Modernitätskritik neu entdeckt: So thematisiert der vom Soziologen und Niklas-Luhmann-Schüler Dirk Baechler publizierte Sammelband "Kapitalismus als Religion" den Kapitalismus als (quasi-)religiöses System.

Zur Vorgeschichte: Der Philosoph Benjamin schrieb 1921 einen kurzen Text mit dem oben genannten Titel, indem er den Kapitalismus als die religiös-immanente - gesellschaftliche - Konsequenz des Christentums interpretierte.

Zum Verständnis: Benjamin charakterisiert den Kapitalismus als "essenzielle religiöse Erscheinung", der vier Grundzüge aufweise:

" Es handle sich dabei um eine reine Kultreligion ohne spezielle Dogmatik.

" Dieser Kult sei permanent, ohne Wochentag, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre.

" Der Kult um den Kapitalismus sei selbstverschuldet und könne nicht entsühnt werden: er gewähre somit keine Erlösung. Die Religion des Kapitalismus bestehe nicht in der Reform des Seins sondern (in) dessen Zertrümmerung.

" Der Kapitalismus verheimliche seinen Gott, der erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf.

Zur Interpretation: Benjamin macht das Christentum - insbesondere Protestantismus und Calvinismus - nicht nur für das Entstehen des Kapitalismus verantwortlich, sondern behauptet, dass das Christentum selbst zum Parasiten des Kapitalismus geworden sei: Der Kapitalismus hat sich - wie nicht allein am Calvinismus, sondern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu erweisen sein muss - auf dem Christentum parasitär im Abendland entwickelt, dergestalt, dass zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die seines Parasiten, des Kapitalismus ist. Und weiter: Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus verwandelt.

Benjamin radikalisiert die These Max Webers, der in den puritanischen Sekten mit ihrer "innerweltlichen Askese" eine wesentliche mentale Voraussetzung für die Durchsetzung des "Geistes des Kapitalismus" sah, indem er behauptet, dass das Christentum sich selbst in den Kapitalismus verwandelt habe bzw. dessen Parasit geworden sei.

Benjamin sieht keine Hoffnung - im Gegensatz zu Marx und anderen -, dass sich die Menschen über den Kult des Kapitalismus erheben können: sie bedürfen göttlicher Erlösung. Da Gott in die Verschuldung der kapitalistischen Religion einbezogen sei, könne die völlige Verschuldung Gottes, der erreichte Weltzustand der Verzweiflung dazu führen, dass Hoffnung auf Entsühnung - Erlösung - durch den sich den Menschen zuwendenden Gott bestehe.

Manichäische Sichtweise

Auf diesen Aspekt des kommenden Gottes macht Birgit Pridat im zitierten Buch aufmerksam, in dem sie auf die Benjamin'sche Theodizee hinweist: Der werdende Gott offenbart sich erst in der Krise und nimmt die Schuld auf: Er opfert sich wie Jesus. Benjamin kann deshalb Gott nicht für tot erklären, weil dieser erst noch seine Schuld - den Kapitalismus - entsühnen muss. Der Tod Gottes fiele somit mit dem "Tod" des Kapitalismus zusammen.

Die Befreiung der Menschen geschieht bei Benjamin nicht durch die Menschen, sondern nur der entsühnende und sterbende Gott kann die erhoffte Erlösung bringen.

Walter Benjamins negative Theologie sieht in geradezu gnostisch-manichäischer Sichtweise im Kapitalismus die Grundübel der Moderne. Die nahe liegende Fragestellungen, ob Geldwirtschaft und Privateigentum kausal überhaupt mit den politischen Regressionen der Moderne - Nationalismen, Totalitarismen und politische Religionen - zusammenhängen, wird nicht thematisiert. Benjamin interpretiert die Moderne theologisch: er wird zum modernen Gnostiker. Die antiken Gnostiker sahen die Welt als negative Schöpfung einer abgefallenen Gottheit und erhofften ihre gänzliche Zerstörung.

Die modernen Gnostiker wollten durch die partielle Zerstörung der Welt - des Kapitalismus, der Bourgeoisie - die Erlösung herbeiführen. Andere Gnostiker - wie Adolf Hitler - sahen im Judentum die essentielle Bedrohung der Welt.

Die meisten Autoren des Buches nähern sich jedoch zu wenig kritisch den Thesen Benjamins - wenn auch teilweise auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Kein Autor thematisiert den Zusammenhang von Geldwirtschaft und Hochkulturen, der nicht erst die europäische Moderne prägte. Die großen Hochkulturen im ersten vorchristlichen Jahrtausend waren verbunden mit dem Aufkommen der Geldwirtschaft, das kulturelle Aufblühen der italienischen Stadtstaaten vor und während der Renaissance war ohne Geldwirtschaft nicht möglich. Die kirchliche Auseinandersetzung um die Rechtsmäßigkeit des Zinsnehmens im Hochmittelalter war eine Voraussetzung für die Entwicklung frühmoderner Gemeinwesen und deren kultureller Blüte.

Der Niedergang des Kommunismus ist auch das implizite Eingeständnis des Versagens von Ökonomien, die nicht über Privateigentum und Geld vermittelt sind.

Dirk Baecker, der Herausgeber des Bandes, reklamiert in seinem Vorwort, dass sowohl die Religionen als auch der reale Kapitalismus nur enttäuschte Heilserwartungen hervorgebracht hätten. Nach einem Jahrhundert realisierter Heilserwartungen in den verschiedenen politischen Religionen des 20. Jahrhunderts sollte auf das säkulare Heil verzichtet werden.

Kapitalismus als Religion

Hg. von Dirk Baecker. Kadmos, Berlin 2003. brosch., 314 Seiten, e 23,30

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