6772735-1969_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Ungarn huldigt Jan Palach

19451960198020002020

Viele Zeichen sprechen dafür, daß der Tod Jan Palachs und die Haltung des tschechischen Volkes seit dem 21. August 1968 in Ungarn wichtige Folgen hat. Nicht im offiziellen Ungarn, nicht im politischen Kurs des Kadar-Regimes, aber in der Seele der ungarischen Nation. Die wichtigste dieser Folgen ist, daß die Klasse der „denkenden“ Ungarn ihre bisherige Meinung über Hie Tschechen als Volk revidiert und daß das Opfer Jan Palachs dazu beiträgt, den historischen Antagonismus dieser beiden Völker zu lösen. So ist es möglich, daß die Selbstverbrennung eines jungen Mannes in Prag eine die aktuelle Politik weit übersteigende Entwicklung zwischen den Donauvölkern einleitet.

19451960198020002020

Viele Zeichen sprechen dafür, daß der Tod Jan Palachs und die Haltung des tschechischen Volkes seit dem 21. August 1968 in Ungarn wichtige Folgen hat. Nicht im offiziellen Ungarn, nicht im politischen Kurs des Kadar-Regimes, aber in der Seele der ungarischen Nation. Die wichtigste dieser Folgen ist, daß die Klasse der „denkenden“ Ungarn ihre bisherige Meinung über Hie Tschechen als Volk revidiert und daß das Opfer Jan Palachs dazu beiträgt, den historischen Antagonismus dieser beiden Völker zu lösen. So ist es möglich, daß die Selbstverbrennung eines jungen Mannes in Prag eine die aktuelle Politik weit übersteigende Entwicklung zwischen den Donauvölkern einleitet.

Werbung
Werbung
Werbung

Worum geht es hier? Darum, daß Budapest die erste Stadt Mitteleuropas war, in der die Tat Jan Palachs Nachahmung fand. Der junge S&ndor Bauer suchte sich in der ungarischen Hauptstadt den Garten des Nationalmuseums aus, um dort durch seine Selbstverbrennung darauf hinzuweisen, daß die ungarische Jugend, um der Freiheit willen, Hand in Hand mit der heutigen Jugend der Tschechoslowakei vorgehen wolle.

Niemand in Ungarn schenkte den amtlichen Verdrehungen der Wahrheit Glauben, weil jeder in Ungarn wußte, was man im Ausland nicht weiß, nämlich, daß das von dem ungarischen Jan Palach ausgesuchte Nationalmuseum ein Symbol der ungarischen Freiheit und des ungarischen Revolutionswillens ist. Am 15. März 1848 drängte sich die nach Reformen verlangende ungarische Jugend als Prolog des ungarischen Freiheitskampfes an den Stufen des Nationalmuseums. Dort deklamierte der größte ungarische Poet, Sändor Petöfl, sein an demselben Tag berühmt gewordenes Gedicht mit dem Refrain: „Nicht länger wollen wir Sklaven sein.“ Wie konnte Sändor Bauer, falls er angeblich „nicht von politischen Motiven“ geleitet war, falls er nur „ein labiler, nervenkranker Mensch“ war, den Willen, die seelische Kraft und Klarsicht haben, als Ort seiner Tat das klassische Gebäude der heiligsten Nationalgefühle auszusuchen?

Im Gegensatz zur amtlichen Erklärung bespricht die ungarische Volksmeinung — wenn auch flüsternd und ängstlich — ständig die Opfer Jan Palachs und Sändor Bauers. Die Alten erinnern sich selbst — und erinnern die Jugend daran —, daß viele große Gestalten der ungarischen Geschichte den Freitod als Mittel wählten, um ihren nationalen Protest auszudrücken. Ende des letzten Jahrhunderts zum Beispiel tat dies Ldszlö Teleki, der gegen eine mögliche Rückkehr des Absolutismus protestierte, und vor ihm, aus ähnlichen Gründen, auch Graf Stefan Szechenyi. Anfangs des zweiten Weltkrieges erschoß sich der damalige Ministerpräsident Paul Teleki, um seinen Protest gegen den Durchmarsch der Hitler-Truppen in Richtung Jugoslawien auszudrücken. Damals sagte Winston Churchill: „Wir werden bei den Friedensverhandlungen einen Stuhl für Graf Teleki freilassen!“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung