Ndiaye - © Foto: imago / Agencia EFE

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur geht an Marie NDiaye

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Die Schriftstellerin Marie NDiaye erhält am 28. Juli in Salzburg den diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

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Die Schriftstellerin Marie NDiaye erhält am 28. Juli in Salzburg den diesjährigen Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

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Eine Familie beschließt, anders als in den Jahren zuvor, nicht Ende August, sondern Anfang September den Urlaub zu beenden und nach Paris zurückzukehren. Der kurze Aufschub hat ungeahnte Folgen. Das Wetter schlägt um und im plötzlich einbrechenden Nebel wird das scheinbar Bekannte fremd. Nicht nur in ihrem Roman „Ein Tag zu lang“ (1994) zeigt sich die 1967 in Pithiviers bei Orléans geborene Autorin Marie NDiaye als Spezialistin für Verwandlungen und das Unheimliche, das in jedes Leben einbrechen kann – oder das vielleicht schon immer da war. Selbst Verschwundene können unter den Anwesenden leben, man habe sie nur vergessen, „so wie man den Regen, die Steine und die Gräser auf den Wegen vergaß“. In ihrem besonders empfehlenswerten Roman „Drei starke Frauen“ (2009) verbindet NDiaye, Tochter einer Französin und eines Senegalesen, in drei Erzählungen Europa und Afrika, Gegenwart und Vergangenheit und das Schicksal dreier Frauen. Sie rückt Nebenfiguren in den Mittelpunkt und schärft die Wahrnehmung. Was bedeutet stark sein? Vielleicht sich wie die verstoßene kinderlose Witwe auf ihrem Weg nach Europa durch nichts und niemanden brechen zu lassen und an der Grenze zu Europa selbst „noch in dem Augenblick, da ihr Schädel auf dem Boden aufschlug“, zu denken: „Das bin ich, Khady Demba.“ Die beschriebenen Räume sind oft real und geografisch verortbar, doch scheinen die Protagonistinnen mit dem Wechsel von Orten zugleich Grenzen zu überschreiten in einen anderen, mythischen Raum. Menschliche Abgründe nimmt NDiaye in ihrem literarischen Werk in den Blick. So auch in „Die Rache ist mein“ (2021) über die Gewalt einer Mutter an ihren Kindern, den Ausbruch aus einer Beziehung, die ein Gefängnis war. Das ist nicht privat, sondern hoch politisch. Denn der Mensch lebt ja in einem Umfeld, dem er versucht zu genügen oder gegen das er angeht, einem Umfeld, das geprägt ist von Machthierarchien, Klasse, Herkunft und nicht zuletzt durch die französische Kolonialgeschichte. Auch ihr faszinierendes „Selbstporträt in Grün“ (2005) widersetzt sich den Gewissheiten, die biografische Aussagen gerne verströmen. Ihr Thema ist viel mehr als ein fiktives Ich: die Wahrnehmung, die Freiheit, die Literatur, die „vieldeutige Gestalt“ der Frauen in Grün: „reale Menschen und literarische Figuren zugleich, ohne die mir die Rauheit des Leben Haut und Fleisch abschürfen würde bis auf den Knochen.“

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