"Stets grazile Körperspannung"

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Auch im modernen Hochleistungsfußball bereitet das künstlerische Moment den größten Genuss. Philosoph Ulf Heuner über die Ästhetik des Fußballs. | Das Gespräch führte Martin Tauss

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Auch im modernen Hochleistungsfußball bereitet das künstlerische Moment den größten Genuss. Philosoph Ulf Heuner über die Ästhetik des Fußballs. | Das Gespräch führte Martin Tauss

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"Siegen ist schön" lautet der Titel eines Beitrags, den Ulf Heuner letztes Jahr in einem Sammelband veröffentlicht hat. Darin befasst sich der deutsche Verleger und Lektor mit der Ästhetik des Sports. Heuner leitet einen Philosophie-und Wissenschaftsverlag in Berlin (Parodos) und ist u. a. Autor des Buches "Missgeschicke. Eine Philosophie der kleinen und großen Katastrophen".

DIE FURCHE: Was liegt der weltweiten Faszination des Fußballs zugrunde?

Ulf Heuner: Ich vertrete die kulturgeschichtliche These, dass sich der Sport erst entwickelt hat, als die Kultur der Menschen so weit fortgeschritten war, dass die größten natürlichen Hindernisse aus dem Weg geräumt waren. Dann fingen die Menschen an, die Hindernisse zu vermissen - und haben eben künstliche aufgebaut: Beim Sport geht es genau darum, Hindernisse, die man sich als Aufgabe stellt, zu überwinden. Zum Beispiel beim Golf: Es gäbe ja nichts einfacheres, als einen kleinen Golfball mit der Hand in ein Loch zu bugsieren. Deshalb hat man die denkbar unpraktischsten Werkzeuge ausgesucht, um dies zu bewerkstelligen. Der Hindernischarakter beim Golf ist extrem hoch. Das gilt in gewisser Weise auch beim Fußball: Verglichen mit der Hand passt der Fuß nicht wirklich zum Ball.

DIE FURCHE: Wie lässt sich der Fußball ästhetisch begreifen? Da gibt es ja mittlerweile Überlegungen von der Genieästhetik bis hin zur Präsenzästhetik ...

Heuner: Mir ist hier das agonale Moment der Ästhetik wichtiger. Unlängst ist Johan Cruyff gestorben, der als Mitbegründer des "schönen Spiels" gilt und die Ästhetik über das Ergebnis gestellt haben soll. Als sein Nachfolger gilt Pep Guardiola, bis vor Kurzem Trainer des FC Bayern. Von ihm sind Interview-Äußerungen überliefert, denen zufolge das Ergebnis nicht das Wichtigste sei. Solche Aussagen sind irgendwie albern. Weil sich in einem Sport wie dem Fußball die Ästhetik und damit die Schönheit des Spiels überhaupt nur über den Wettkampf zeigen kann. Das von FC Barcelona perfektionierte Tiki-Taka-Spiel würde gar keinen Sinn ergeben, wenn es nicht eine verteidigende Mannschaft gäbe, die diesem Spiel ernsthaften Widerstand entgegensetzen kann. Würde Barcelona gegen eine Amateurmannschaft spielen, hätte das doch keinerlei Reiz. Schönheit gibt es hier nicht ohne den agonalen Charakter.

DIE FURCHE: Rückblickend kann man feststellen, dass die deutsche Nationalmannschaft ihr Spiel zumindest verschönert hat ...

Heuner: Der bekannteste deutschen Vertreter des schönen Spiels ist Teamchef Jogi Löw, der unter anderem Pep Guardiola als ein Vorbild genommen hat. Löw hat die Fans mit dem Offensivspiel der deutschen Nationalmannschaft begeistert, ist aber bei den Turnieren zunächst immer knapp vor dem Ziel gescheitert. Die Gazetten haben dann oft geschrieben: Um so ein Turnier zu gewinnen, braucht man eben doch mehr. Betrachtet man den Weg der Deutschen bei der letzten WM, bemerkt man, dass ein Umdenken stattgefunden hat. Ein Tor nach einer Standardsituation zählte genauso viel wie aus einer schönen Aktion heraus. Die alte Wahrheit, dass Turniere mit der Abwehr gewonnen werden, hat sich dort bestätigt, vor allem im Finale gegen Argentinien mit Messi. Hansi Flick, damaliger Assistent des Teamchefs, soll darauf gepocht haben, dass auch die Corner-Situationen trainiert werden. Davor waren die Ecken eine Katastrophe. Bei der WM 2014 hat dann Mats Hummels nach einer Ecke endlich ein ganz banales Kopfballtor gemacht - wie zur besten Zeit des deutschen "Rumpelfußballs" in den 1980er-Jahren. Das entscheidende Finaltor von Mario Götze war allerdings eine äußert schwierige Aktion unter größtem Widerstand des Gegners, das schönste Tor der WM-Finalgeschichte.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie das Verhältnis von Mannschaft und Einzelleistung?

Heuner: Cristiano Ronaldo zum Beispiel wird wie ein vom Himmel gefallenes Genie bewundert. Aber man kann davon ausgehen, dass er heute noch zu denen gehört, die am meisten trainieren. Es gibt bei der EM einen anderen herausragenden Spieler, Zlatan Ibrahimovic, der noch selbstbewusster auftritt als Ronaldo. Aber er hat noch nie einen bedeutenden internationalen Titel geholt, obwohl er immer in Spitzenvereinen gespielt hat. Ronaldo hat verstanden, dass er nicht alleine gewinnen kann. Er ist ein mannschaftsdienlicher Spieler, so gockelhaft er auch auftritt. Im Vergleich zu Lionel Messi gelingt es Ronaldo, in der Effizienz immer darauf zu achten, dass er gut aussieht, und zwar gut im Sinne einer stets grazilen Körperspannung. Diese einzigartige Fähigkeit, Effizienz und Ästhetik zu verbinden, macht Ronaldo zum derzeit besten Fußballer der Welt.

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