Ballettforscherin  - © Foto: Gabi Landy

„In Zukunft geht es um Wissen statt Diktatur“

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Die Tänzerin und Pädagogin E. Hollister Mathis-Masury über den hohen Status des klassischen Balletts, den Faktor Freiheit in seiner Geschichte und die folgenschwere Prägung vieler Lehrender durch kommunistische Regimes.

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Die Tänzerin und Pädagogin E. Hollister Mathis-Masury über den hohen Status des klassischen Balletts, den Faktor Freiheit in seiner Geschichte und die folgenschwere Prägung vieler Lehrender durch kommunistische Regimes.

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E. Hollister Mathis-Masury wurde in den USA als Balletttänzerin ausgebildet, war bereits mit 17 Jahren Berufstänzerin und hat als Choreografin und Produzentin gearbeitet. Sie studierte Tanzwissenschaft am "Centre for Dance Research" der University of Roehampton in London sowie später auch Musikwissenschaft, Design, Kulturwissenschaft und Soziologie. In Tübingen hat sie 2007 „Inz Tanz“ gegründet, ein staatlich anerkanntes Zentrum für professionellen Tanz, wo neben Ballett auch Modern, Hiphop und Kindertanz unterrichtet wird. DIE FURCHE hat sie zum Gespräch gebeten.


DIE FURCHE: Woher kommt eigentlich der hohe Status des Balletts?

E. Hollister Mathis-Masury: Ballett war eines der wichtigsten gesellschaftlichen Rituale in den starken Monarchien. Adelige lernten stets zu tanzen. Wer tanzte, hatte Status. Als König Ludwig XIV. selbst aufhörte zu tanzen und die erste Ballettschule eröffnete, wurde Ballett auch für Bürgerliche zugänglich. Ab da fanden sich auch mehr Frauen im Ballett. Mit der Professionalisierung wurde die Rolle der Frau immer wichtiger.


DIE FURCHE: Inwiefern spielt das Verständnis von Freiheit eine Rolle für die Entwicklung von Ballett?

Mathis-Masury: In Frankreich entwickelte sich das Ballett anders als in Deutschland. Der unterschiedlich verstandene Freiheitsbegriff ist einer der Gründe. In Frankreich sah man Freiheit als kollektive politische Freiheit, auch als äußere Freiheit, hier konnte der Tanz sich etwas freier entwickeln. In Deutschland war Freiheit mit der Strömung des Deutschen Idealismus besetzt. Das heißt die individuelle, innere Freiheit des Einzelnen stand im Vordergrund, was oft esoterische oder religiöse Züge annahm.


DIE FURCHE: Warum halten sich konservative, sehr disziplinorientierte Ausbildungsstrategien im Ballett so gut?

Mathis-Masury: Dafür gibt es mehrere Gründe. Ballett ist Leistungssport und eine Extremsportart. Disziplin und hartes Training werden also immer Teil des professionellen Balletttanzes sein. Ein weiterer Grund dafür ist, dass wir uns von außen, als Gesellschaft, wenig mit dem Tanz beschäftigen. Über das Training anderer Leistungssportarten, wie Fußball, wissen wir viel mehr als über die des Balletts. Hier schauen wir meist nur auf das Endprodukt – den schönen Tanz auf der Bühne. Zum anderen kommt es ja stark auf die Person an, die lehrt, darauf, wie Tanz vermittelt wird. In unserer Region bilden heute noch häufig Personen aus, die selbst in kommunistischen Ländern wie Russland oder in Diktaturen aufgewachsen sind und dort auch das Tanzen gelernt haben. Also selbst eine sehr von Disziplin geprägte Ausbildung erfahren haben. Das spiegelt sich natürlich in ihrer Tätigkeit als Tanzlehrerin oder -lehrer wider. Nicht immer, aber oft.


DIE FURCHE: Woher kommt es, dass Ballett wie eine Welt mit eigenen Normen erscheint?

Mathis-Masury: Ein Problem ist, dass wir Tanz selbst zu wenig erforschen, es wird nicht als Wissensbereich angesehen, ist nicht wirklich in unser Bildungssystem eingebettet. Man kann Literaturwissenschaften studieren, ohne dass man selbst Literat sein muss. Aber die Wissenschaft über den Tanz und nicht das Tanzen selbst zu studieren, ist schwierig. Im deutschsprachigen Raum sind tanzwissenschaftliche Studiengänge so gut wie gar nicht zu finden. Wenig öffentliches Wissen ist mitverantwortlich dafür, dass Ballett eine so gut wie abgeschlossene Welt mit eigenen Normen sein kann. Neuere Techniken für Tanzausbildung sind vorhanden, aber es müsste mehr darüber gesprochen werden. Tanz als Bewegungskunst sollte auch mehr ins Bildungssystem integriert werden, damit auch junge Menschen, die selbst keine Tänzer sind, über Tanz Bescheid wissen.


DIE FURCHE: Gibt es Tendenzen dahingehend, dass sich im Ballett idealisierte Körpernormen aufheben?

Mathis-Masury: Natürlich gibt es die. In den USA gibt es vermehrt schwarze Tänzerinnen und Tänzer auf Bühnen und auch solche, deren Körper nicht den vorherrschenden Körpernormen entsprechen. Ensembles, die auf Vielfalt setzen, sind im Aufkommen. Zudem wird der Tanzmedizin und Ernährungsstrategien größerer Wert zugesprochen, eingesessene Traditionen verlieren an Halt. Wir stehen gerade an der Kippe, an der jene Generationen die Ballettwelt gestalten, die mehr von Wissen als von Diktatur geprägt sind.

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