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Nur keine Märchen mehr

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Denkt man heute an Stuttgart, so denkt man vor allem an John Cranko. Seit elf Jahren ist der englische Choreograph als Direktor des Stuttgarter Staatstheaterballetts tätig und ansässig. Er hat dieses Ensemble erzogen, zum Weltruhme gebracht und durch die halbe Welt von Triumph zu Triumph geführt.

Man kann schon von größtem Glück reden, wenn man die Chance hat, während eines dreitägigen Aufenthaltes in der schönen, kunstfreundlichen und turbulenten Stadt gleich zwei seiner Ballettabende miterleben zu können. Ich hatte sie,..

Cranco lädt für 1 Uhr mittags zu einer Probe in den Ballettsaal der Staatsoper und anschließend zu einem Gespräch bei Kaffee in die Kantine ein.

„Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört, daß ich jetzt schon zwei Truppen habe — neben meinem großen Ensemble, das inklusive der .Babys' 250 Mitglieder zählt —, leite ich auch, bereits das zweite Jahr, meine neue Kreation, das Noverre-Ballett, das im Kleinen Haus tanzt. Ich wollte nicht, daß beide Institutionen meinen Namen tragen sollen. Dieses zweite Ensemble besteht aus 20 Tänzern, und da will ich jungen Choreographen, Ballett-, Fecht- und Anatomie-Meistern eine große Chance geben. Dieser Kurs ist auf acht Jahre geplant, residiert im neuen Haus und wir sind dabei, für sie ein Internat zu gründen. In der großen Gruppe habe ich bis zu 70 Prozent Tänzer aus aller Herren Länder

— die übrigen 30 Prozent sind Deutsche. Momentan haben wir niemanden aus dem Osten. Wir kommen im Jahr bis auf 165 Vorstellungen — im vergangenen Jahr waren wir mit der ersten Kompanie vier Monate lang auf einer ausgedehnten Nordamerika-Tournee in allen wesentlichen Städten und dann auch noch drei Wochen in Israel. Es war einer unserer größten, rauschendsten Erfolge...“

Die nächsten künstlerischen Pläne?

„Vor allem habe ich mich fest entschlossen, keine, wie auch immer gearteten Märchen mehr zu choreographieren — no more fairy tales! — Andere Gebiete, aber vor allem die moderne und experimentelle Musik ist es, die mich reizt. Die Hoechst-Werke gaben vor ungefähr einem Jahr einen Auftrag an Penderecki, für mich ein Ballett zu komponieren

— es sollte Apokalypse' heißen, aber Penderecki hat keine Zeit und so müssen wir darauf noch warten. Ich bin eben mit Fleiß dabei, wenn ich nur eine freie Stunde habe, Ligetis gesamtes CEuvre sorgfältig anzuhören und zu studieren. Hoffentlich fällt mir bald was Passendes ein ...“

Die kommenden Tourneen?

In der nächsten Zeit, und zwar schon am 16. Februar, sind wir in London, in Covent Garden, und zeigen das Zweite Klavierkonzert von Brahms und das Adagio aus der Zehnten von Mahler. Im September 1972 gastieren wir für drei Wochen in der Pariser Oper — auf unserem Programm stehen: Debussys .Brouillard', vier kleine OrchcISRfrwerke von Bar-tök, .Kommen und Gehen', Glasu-novs Jahreszeiten, Carmen, One-gin.

Sehr gern würde ich auch wieder einmal nach Wien kommen, aber diesmal nicht ins Theater an der Wien, sondern in die Staatsoper! Vielleicht könnte man für 1973 irgendeinen gemeinsamen Termin finden! In unserem Spielplan 1972 stehen rund 20 meiner Ballette — von Prokofjeffs ,Romeo und Julia' über ,Jeu de Cartes' bis zu .Orpheus' so ziemlich alles. MacMillans .Las Hermanas', Wrights .Giselle', Balanchines Apollo' und ,Agon', ein .Kylian' und ein Beatle-Ballett ergänzen den bunten Reigen.“

Er trinkt seinen zweiten Kaffee und kehrt in den Probesaal zurück. Die am 16. März 1969 urauf-geführte „Widerspenstige Zähmung“ ist der perfekteste Jux: eine Spaßorgie sondergleichen, mit burlesken Chaplinaden und schallenden Ohrfeigen gewürzt, eine Sternstunde des Balletts. Crankos größtes Verdienst bei dieser seiner gezielten Arbeit ist, daß ein Ensemble einmal auch das herzhafte Lachen erlernt und weitergegeben hat.

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