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New Yorks größte Mode

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Letztes Wochenende waren es ungefähr 100.000 Leute, die eine der Tanzvorstellungen besuchten, die in mindestens fünf New Yorker Theatern und Konzertsälen in ausverkauften Häusern stattfanden. Das Interesse an Ballett, modernem Ausdruckstanz mit Hinzunahme anderer theatralischer Medien ist hierzulande, besonders für die neue Generation, in überzeugendster Weise bestätigt worden.

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Letztes Wochenende waren es ungefähr 100.000 Leute, die eine der Tanzvorstellungen besuchten, die in mindestens fünf New Yorker Theatern und Konzertsälen in ausverkauften Häusern stattfanden. Das Interesse an Ballett, modernem Ausdruckstanz mit Hinzunahme anderer theatralischer Medien ist hierzulande, besonders für die neue Generation, in überzeugendster Weise bestätigt worden.

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Von den Programmen der verschiedenen Ensembles war vielleicht das USA-Debüt von Maurice Bėjarts „Ballett du XXe Siėcle“ das wichtigste. Das Gastspiel wurde des großen Erfolges wegen eine Woche verlängert und dauerte fünf Wochen in der Brooklyn Academy of Music (3200 Plätze) bei 40 durchwegs ausverkauften Vorstellungen. Die Vermischung von tibetanischer Musik, Holzblöcken, Schlagzeug und Bach- Kantaten wirkt nicht immer überzeugend. Doch Bėjarts Fülle an Ideen und vor allem die vollendet wirkende Ausführung zeigt dem Musiktheater von morgen neue Wege. Die massive theatralische Wirkung, die Bėjart und seine Gruppe hervorragender Tänzer (Paolo Bartoluzzi, Jorge Donn und Tania Bari sowie Maina Gielgud, Nichte des großen englischen Schauspielers, sind nur einige besonders hervorzuhebende) erzielen, ist ein großes Erlebnis, auf das man nicht verzichten soll.

Das American Ballet Theatre, die Joffrey Ballet Company und Balanchine’s N^w York City Ballett treten in New York regelmäßig auf, und alle dehnen ihre Spielzeiten mehr und mehr aus — Gastgruppen aus aller Herren Ländern finden hier immer ein enthusiastisches Publikum. Kürzlich trat das Australische Ballett (von Sir Robert Helpman geleitet) zum erstenmal hier auf. Es ist eine sehr junge Truppe, deren Können noch etwas unsicher ist, deren gute tänzerische Leistungen aber ansprechend sind, und es dürfte nicht allzulange dauern, bas auch die Australier zu den führenden Ballettgruppen der Welt gehören werden. Im Moment sind noch die Stars Hauptattraktion: Rudolf Nurejew, der in seiner eigenen Choreographie von „Don Quixote“ die Hauptrolle, den jungen Basilio, tanzte und somit den Erfolg der ersten Amerikatournee automatisch verbürgt. Auch seine Partnerin, L ucette Aldous, Ballerina des Royal Ballet in London, aber geborene Australierin, ist technisch perfekt, grazil in ihrer Erscheinung, und die dramatische Virtuosität, mit der beide Tänzer den großen Pas de deux tanzten, brachte Beifallsorkane. Robert Helpman, jetzt Direktor der Gruppe, tanzte die Titelrolle — so jung, gelenkig und graziös wie eh und je.

Erst in der Zukunft wird sich zeigen, wie das australische Ballett ohne seine prominenten Gäste im wahrsten Sinne des Wortes „auf eigenen Füßen stehen kann“. Talent ist vorhanden, und alles deutet auf eine sorgfältige Führung hin — es wird mit der Zeit auch über eigene Stars verfügen. Marylin Jones, mit Nurejew in „Raymonda“ die Hauptrolle tanzend, gehört zu den Hoffnungen des in Melbourne und Sydney beheimateten Ensembles.

Großen Beifall fand auch das 95 Mitglieder zählende Ensemble von Sängern, “Tänzern und Musikern aus Omsk (Sibirien), die in schönen Nationalkostümen die Folklore ihrer Heimat in Requisiten wie Samoware, Stiefel, Peitschen, Bänder und Häubchen, der westlichen Welt zeigten. Am Eröffnungsabend des Gastspiels gab es Terrorakte von radikalen Elementen. Eine Stinkbombe explodierte, in der Pause wurde der Saal geräumt, doch das Ensemble zeigte sibirische Kaltblütigkeit, und das Publikum brachte ihm am Schluß eine große Ovation, die zugleich ein Protest gegen die Skandalmacher war — um so mehr, als diese Ame- rikatoumee im Rahmen des Kulturaustausches zwischen der Sowjetunion und den USA erfolgt. Höhepunkt der Saison des modernen Tanzes im ANTA-Theater waren die Produktionen von Alwin Nikolais, die man mit Recht als „Totales Theater“ bezeichnen kann. Nicht nur weil die Choreographie wirkungsvoll von Geräuschkulissen und aller- modernsten Beleuchtungseffekten unterstrichen wird, auch weil in manchen Fällen die Tanzbewegungen eine sekundäre Rolle spielen. Irrlichter und elektronische Fabelwesen, in Schleiersäcke verhüllte Tänzerinnen, die in einer Sekunde von statuesken Nonnen zu Kobolden werden — ein Ensemble, das vom Totentanz mit Leichtigkeit zur Groteske hinüberwechselt: das sind die Merkmale von Alwin Nikolais Tanz- theatre — Ensembletheatre, das mit dem Werk „Echo“ sein Ziel erreicht hat. Ein Kaleidoskop von Farben und Tönen, Bewegungskunst mit Beleuchtungseffekten gepaart, die den Zuschauer psychedelisch beeinflussen. Auch „Turm“, eine scharfe Parodie über die durch Einwirkung von Technik und Zivilisation geformte Menschheit, wurde begeistert aufgemommen. Hinreißend ist Nikolais’ „Zelt“ und was sein Ensemble mit einem Stück Tuch und ein paar Leuchtkugeln anzufangen weiß: Beduinenzelt — mittelalterliche Burgenstadt —, Dünen und Wald und schließlich die unvermeidliche Atomwolke. Ein neuartiges Werk, von der Autorität seines Schöpfers, der wie immer für Choreorraohie, Beleuchtung, Tonband, Bühnenbild und Kostüme zeichnete, durchdrungen.

Es hat 20 Jahre gedauert, bis Nikolais’ mit artistischer Geschicklichkeijt höchster Potenz und sehr viel Geduld begonnene Arbeit die erhofften Früchte tragen sah: eine (fast ausverkaufte) Aufführungsserie in einem großen Theater für das sogenannte Broadway-Publikum.

Unweigerlich ist heute New York (nicht Paris oder London) die Hauptstadt des Tanzes. Noch vor fünf Jahren zählte man 340 Tanzvorführungen in der Saison (1964 bis 1965). Letzte Woche allein konnte man in New York 45 Tanzvorführungen besuchen.

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