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Wien hat ihn wieder

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Man kann nicht behaupten, daß während der letzten Jahre das Ballett Wesentliches, Neues und Interessantes zum Repertoire der Wiener Staatsoper beigesteuert hat. Hiefür gibt es viele Gründe, deren Darlegung und Untersuchung- den Rahmen dieses Berichtes sprengen würde. Seit dem Premierenabend am vergangenen Freitag, an dem Aurel von Milloss, fünf seiner Ballette präsentierte, haben wir Hoffnung, daß sich das ändern wird. Bereits 1963 bis 1966 war Milloss, der derzeit neben Balan-chine der bedeutendste Choreograph ist, als Ballettdirektor der Staatsoper tätig. Seit dem Tod Erika Hankas war es ihm als einzigem gelungen, Niveau und Prestige des Staatsopernballetts zu heben. Und nur wer sich jener Jahre erinnert, wird von dem letzten Premierenabend nicht überrascht gewesen sein.

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Man kann nicht behaupten, daß während der letzten Jahre das Ballett Wesentliches, Neues und Interessantes zum Repertoire der Wiener Staatsoper beigesteuert hat. Hiefür gibt es viele Gründe, deren Darlegung und Untersuchung- den Rahmen dieses Berichtes sprengen würde. Seit dem Premierenabend am vergangenen Freitag, an dem Aurel von Milloss, fünf seiner Ballette präsentierte, haben wir Hoffnung, daß sich das ändern wird. Bereits 1963 bis 1966 war Milloss, der derzeit neben Balan-chine der bedeutendste Choreograph ist, als Ballettdirektor der Staatsoper tätig. Seit dem Tod Erika Hankas war es ihm als einzigem gelungen, Niveau und Prestige des Staatsopernballetts zu heben. Und nur wer sich jener Jahre erinnert, wird von dem letzten Premierenabend nicht überrascht gewesen sein.

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Sämtliche fünf Ballette nämlich basieren auf wichtigen Partituren, die in unserer Zeit entstanden sind. Milloss gibt ihnen die gleiche Präferenz wie ein Opernkomponist, der ein künstlerisch wertvolles Libretto einem banalen vorzieht. Und das Zeitgenössische in der Musik verbürgt ihm einen höheren Grad von Wesensverwandtschaft als die Werke der Klassik oder Romantik. — Die fünf dargebotenen Ballette zeigten die verschiedenartigsten Aspekte und Farben der choreographischen Palette ihres Schöpfers.

„An die Zeiten“ ist der Titel einer „mythischen Tanzhymne“ nach Mil-hauds Konzert für Schlagwerk und kleines Orchester. Es ist ein kurzes, überaus wirkungsvolles Ballett, eine Art exotisches Ritual für fünf Solotänzer und Corps de Ballet, in dessen Verlauf — nach einer Katastrophe — etwas Neues sich ankündigt. Corrado Cagli, 1910 in Ancona geboren und international bekannt, hat es bei seiner Uraufführung am 3. März in Rot und Schwarz ausgestattet: nach eigenen Bildern, die von einem Ausbruch des Ätna im Jahr 1971 angeregt wurden.

„Wandlungen“, 1940 erstmals gezeigt, ist als Ballett ebenso neuartig und eigenwillig wie Schönbergs Variationen für Orchester op. 31.-Milloss hat diese komplizierte Musik für sieben Solotänzer choreographiert. Ein solches Ballett mit zugleich strengen und gelösten Formen konnte nur nach vollzogener Synthese von akademischem und Ausdruckstanz entstehen. Seine Kontrapunktik und die Führung der einzelnen Tänzer schafft neue Beziehungen des Menschen im Raum, so wie sie bildnerisch Oskar Schlemmer vom Bauhaus dargestellt hat. Die schönen jungen Tänzer in weißen Trikots und Perücken agierten vor einem türkisfarbenen Hintergrund von zauberischer Schönheit, der — zurecht — beim Heben des Vorhangs Sonderapplaus erhielt.

„Memoiren aus dem Unbekannten“ nach Bartöks großartiger, immer wieder faszinierender Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta ist für Milloss so etwas wie ein „work in progress“ geworden. Seit 1951 beschäftigt ihn das Thema eines choreographischen Mysteriums, das jetzt in der Fassung für fünf Solotänzer endgültige Gestalt angenommen hat. Um eine zentrale Figur bewegen sich der spirituelle und der sensuelle Pol, beeinflußt von der „dämonischen Kraft“ und vom „Wahn“. Hier, in diesem Ballett, ist alles Ausdruck und Spannung, die sich nur in den beiden kürzeren bewegten Teilen löst. Sie sind besonders gut gelungen, und wie Milloss zu der raschen Bewegung der Musik gewissermaßen .halbe Noten“ tanzen läßt, ist von besonderem Reiz, ebenso wie die buntfarbigen Kostüme vor nachtdunklem Hintergrund.

„Estri“, nach einem Tonband mit Goffredo Petrassis gleichnamiger Musik für Kammerorchester getanzt, ist ein heiteres Spiel zu dritt mit gelegentlichen dramatischen Akzenten. Choreographie, Musik und Ausstattung — zwei abstrakte Drahtflguren — haben als Gemeinsames die Vorstellung des Filigranen.

Den Abschluß bildete die indianische Phantasie“ nach einem Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, dessen Themen gelegentlich an Dvofäks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ erinnern. Es ist ein Hochzeitsritual in mehreren Bildern, eine Art „Noces“ mit stark universalisierten Gesten, während sich der Maler Caglia mit seinen überaus bunten und aparten Kostümen auf konkrete Vorbilder gestützt zu haben scheint. Das Stück endet, wie der ganze Abend, mit einem Freudenfest mit vielen Vorhängen, an denen alle Mitwirkenden ihren gemessenen Anteil hatten.

Der Beifall am Ende des Abends galt vor allem dem Choreographen Milloss und Walter Weiler, unter dessen Leitung die Philharmoniker die schwierigen Partituren, vor allem die von Schönberg und von Bartök so exakt gespielt haben, wie wir es bei einem Ballettabend noch kaum je erlebt haben. — Nach den einzelnen Nummern wurden das Corps de Ballet und die jungen Solisten, etwa zwanzig an der Zahl, die Hervorragendes geleistet haben, lebhaft gefeiert: Ludwig Musil, Renate Loucki, Anneliese Steiner, Gerhard Dirtl und Günther Falusy; Lisi Maar, Karl Musil, Michael Birkmeyer, Osioald Haderer, Judith Gerber, Elisabeth Möbius und Christine Eisinger; Franz Wilhelm, Susanne Kirnbauer, Christi Zimmerl und Wilhelm Hohn; Lilly Scheuermann, Gisela Cech und Paul Wondrak.

Jede dieser Leistungen verdiente es, gesondert beschrieben und gewürdigt zu werden. Im Rahmen dieses Berichts ist es nicht möglich, aber wir werden es bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit nachholen. Vor allem geht es aber darum, daß künftig mehr als bisher dem Staatsopernballett Gelegenheit gegeben wird, zu zeigen, was es kann. Aurel von Milloss, ein kreativer Künstler und erfahrener Pädagoge, ein Mann mit universeller Bildung und differenziertem Geschmack, der das meiste weit hinter und unter sich läßt, was auf der Wiener Kulturszene herumkrabbelt, ist der Manli, eine neue Ära des Wiener Balletts einzuleiten und zu verwirklichen. Wenn man ihn nur ein paar Jahre lang ungestört arbeiten läßt...

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