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Interessant und festlich

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Nach langer Pause gab es an der Wiener Staatsoper wieder einen Ballettpremierenabend. Die Pause bis zum nächsten wird allerdings noch länger dauern. Denn die am vergangenen Freitag gezeigten Milloss-Ballette sind, vorläufig wenigstens, die letzten, die wir sehen werden, da der erst vor drei Jahren an die Wiener Staatsoper zurückberufene Ballettdirektor mit Ende der Saison das Haus verlassen wird. Was wir mit ihm verlieren, wird sich bald zeigen. Doch — sprechen wir zunächst von den letzten Werken, die er uns hinterließ.

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Nach langer Pause gab es an der Wiener Staatsoper wieder einen Ballettpremierenabend. Die Pause bis zum nächsten wird allerdings noch länger dauern. Denn die am vergangenen Freitag gezeigten Milloss-Ballette sind, vorläufig wenigstens, die letzten, die wir sehen werden, da der erst vor drei Jahren an die Wiener Staatsoper zurückberufene Ballettdirektor mit Ende der Saison das Haus verlassen wird. Was wir mit ihm verlieren, wird sich bald zeigen. Doch — sprechen wir zunächst von den letzten Werken, die er uns hinterließ.

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Der dreiteilige Abend begann mit „Orpheus“ auf Musik von Stra-winsky, die dieser auf Anregung Balanchines 1947 geschrieben hat. Die Uraufführung erfolgte bereits im folgenden Jahr am 28. April im City Center, New York, in der Choreographie Balanchines. (Das war genau zwanzig Jahre nach dem ersten großen klassizistischen Ballett, „Apollon musagete“, das Strawinsky für den ihm am nächsten stehenden Choreographen geschrieben hat). Aber noch im Herbst des gleichen Jahres vertraute Strawinsky seine Meisterpar-titur von strenger, spröder Schönheit Aurel von Milloss an, der sie mit dem Ballett der Römischen Oper im Teatro La Fenioe zur europäischen Erstaufführung brachte. Damit hat Milloss zum dritten Mal den Orpheus-Stoff choreographiert, und es ist ein Werk von exquisitem Geschmack und nobler Schönheit geworden. Die Handlung folgt der bekannten klassischen Sage, nur endet das neue Orpheus-Ballett nicht mit der Zerreißung des Gottes durch- die Furien, auch nicht mit einer Apotheose, sondern mit seiner Verwandlung in ein flammend leuchtendes Sonnenrad. Die Kostüme scheinen von spanischen Farben und Formen inspiriert. Vor einem blaugrünen changierenden Hintergrund hat Pan-telis Desyllas, der Leiter der Dekorationswerkstätten der Staatsoper, Bühnenbilder entworfen, die dem barocken und klassizistischen Charakter der Partitur Strawinskys entsprachen. Michael Birkmeyer war ein nobler Orpheus, Lilly Scheuermann eine anmutig-würdevolle Eurydike, Christine Eisinger eine temperamentvolle Anführerin der Furien. Und wieder einmal konnte man feststellen, daß Strawinsky von den Ballettkomponisten dieser ersten Jahrhunderthälfte der weitaus bedeutendste war.

Die bereits um 1960 entstandene Komposition „Relazioni fragili“ von Friedrich Cerha, für Cembalo, Kammerorchester und zwei Frauenstimmen, lernte Milloss fünf Jahre später kennen und schätzen, aber zu einer tänzerischen Realisierung ist es erst jetzt gekommen. (Das sehr aparte, gar nicht mehr so fragil klingende 20-Minuten-Stück härten wir in der Staatsoper vom Tonband,nach einer sorgfältig vorbereiteten Wiedergabe durch das reihe-ensem-ble unter der Leitung des Komponisten, für eine Aufnahme des WDR-Köln.) Cerha hat diese Komposition vor nunmehr bald 15 Jahren als „absolute Musik“ geschrieben. Aber Milloss entdeckte eine verborgene Handlung in der Musik, gegen die der Komponist nichts einzuwenden hatte: Ein Träumer gerät in eine phantastische, von graugrünen Stalagmiten umsäumte Landschaft, auf

Vertrag nicht verlängert: Ballettdirektor Professor Aurel von Milloss die geheimnisvolle, von einem Bild Max Emsts inspirierte Augen blik-ken, und wird von ihr, wie unter Drogeneinfluß, zu poetischen Trug-vorstellungen stimuliert. In der Tat eignet sich die Musik mit ihrem teils dichten, teils zart-durchsichtigen Gewebe, mit ihrem durch aparte Kombination von Cembaloklang, diversen Schlaginstrumenten, Vibra-phon, Becken und Gongs erzeugten „Klima“ zur Wiedergabe sowohl beängstigender wie beglückender irrealer Vorstellungen. Von Paolo Bortoluzzi, dem derzeit wohl bedeutendsten jungen Tänzer, ging, in der Rolle des Träumenden, ein lyrischer Zauber ganz eigener Art aus. Der virtuose Techniker Bortoluzzi freilich kam nicht zum Zug. Anton Hejna war der zwielichtige Gaukler,Ludung M. Musil der wiederholt die Maske wechselnde unheimliche Zauberer, Elisabeth Möbius das bezaubernd-anmutige Traummädchen. Auf diese Weise kam die Wiener Staatsoper in der Saison 1973/74 wenigstens zu einer Uraufführung ... *

Den Beschluß bildete das umfangreichste und zugleich handfesteste Stück des Abends mit dem Titel „Der verlorene Sohn“, zu dem bereits Ende der zwanziger Jahre, unmittelbar nach dem berühmten brui-tistischen „Pas d'aeier“, Prokofieff eine lOteilige Suite geschrieben hat. Kochnos Libretto für Diaghilew betonte mehr das Raffinierte, Elegant-Spielerische der Partitur, aber es war doch so etwas wie ein Testament Diaghilews, der drei Monate nach der- Pariser Premiere in Venedig starb (von Balanchine stammte die Choreographie mit Serge Lifar in der Titelrolle, die Kostüme von Vera Strawinsky, der Gattin des Komponisten, vom großen Georges Rouault die Bühnenbilder, und Prokofieff stand am Dirigentenpult. Das waren noch Zeiten!). „Der verlorene Sohn“ ist eines der Lieblingswerke Milloss', der es bald nach der Premiere sah, aber erst 1934 Gelegenheit hatte, eine neue Choreographie zu machen, die sich mehr an die biblische Vorlage hält und zugleich genauer den zehn Nummern von Pro-kofleffs Partitur folgt. Die Gliederung in fünf Bilder ist sehr logisch und überzeugend: Bild eins und fünf, vor dem Elternhaus, umschließen Bild zwei und vier „in der Wüste“. Innerhalb dieser Bilder gibt es Szenen mit der Verführerin, Trunkenheit, Plünderung, erwachende Reue, Teilung der Beute usw. — Milloss hat in vielen Städten, in der halben Welt, dieses Ballett gezeigt und etwa 70mal die Titelpartie selbst getanzt. Er mag also seinem Nachfolger Franz Wilhelm recht kritisch und, wie man hört, mit größter Zufriedenheit zugesehen haben. Dieser bot allerdings auch seine bisher reifste Leistung in einer Riesenpartie (das Ballett dauert etwa 50 Minuten). Neben der eindrucksvollen Rolle des Vaters (Ludwig M. Musil) enthält dieses Ballett auch für unsere beste und ausdrucksvollste Tänzerin, Christi Zimmerl, eine große und wichtige Partie. Pantelis Desyllas, der für die betreffenden Szenen ein stimmungsvolles Wüstenbild hingezaubert hatte, entwarf für die „Verführerin“ ein prächtig-dekoratives leuchtendrotes Gewand, das, ausgebreitet, ein Dritteil des Bühnenraumes zu füllen schien und die Szene beiherrschte.

Das Orchester unter Stefan Soltesz musizierte sicher und mit Elan. Nichts störte den festlichen Abend mit langanhaltendem Applaus nach jedem Ballett als einige törichte Buhrufe am Schluß (Gegen wen, gegen was?). Und der Gedanke, daß dieses Fest leider auch ein Abschiedsfest war. Aber daran wollen wir noch nicht so recht glauben ...

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