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Drei Exempel

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Der neue Ballettdirektor verwöhnt — und belehrt sein Publikum. Nachdem beim vorletzten Premierenabend drei Milloss-Choreographien gezeigt wurden, darunter eine Uraufführung, präsentiert er jetzt, neben einer eigenen Arbeit, die zweier seiner berühmtesten Kollegen, von denen jeder auf seine Art maßgeblich an der Entwicklung der Tanzkunst in dieser ersten Jahrhunderthälfte mitgewirkt hat.

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Der neue Ballettdirektor verwöhnt — und belehrt sein Publikum. Nachdem beim vorletzten Premierenabend drei Milloss-Choreographien gezeigt wurden, darunter eine Uraufführung, präsentiert er jetzt, neben einer eigenen Arbeit, die zweier seiner berühmtesten Kollegen, von denen jeder auf seine Art maßgeblich an der Entwicklung der Tanzkunst in dieser ersten Jahrhunderthälfte mitgewirkt hat.

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Georges Balanchine, der Große, braucht hier nicht vorgestellt zu werden. Seit 1924 arbeitete er mit Diaghilew zusammen, seit 1948 wirkt er in den USA, zuletzt als künstlerischer Leiter des New York City Ballet, das wir auch schon in Wien gesehen haben. Unter dem Titel „Symphonie in C“ zeigte es auch die 1947 für die Pariser Oper geschaffene und ein Jahr später für Amerika adaptierte Choreographie „Palais de Cristal“ nach Musik von Georges Bizet. Es ist das Hauptwerk von Balanchines erster, streng klassizistischer Periode, eines Stils, der später denaturiert, ja kompliziert wurde und Strawinsky zu mehreren seiner Meisterpartituren angeregt hat. Für Balanchine war immer das visuelle Spiel und nicht die Handlung wichtig. — Hier hat er von ihr ganz abstrahiert. Diesem Stil entsprechen auch die strenge Konstruktion, der äußere Rahmen und die Kostüme: In jedem der vier Sätze bewegen sich je ein Hauptpaar und je zwei Solopaare mit dem Ensemble in schwarzen Trikots der Herren und im weißen Tutu der Ballerinen vor einem leuchtend blauen, schwarzumrandeten Hintergrund in hellem, kühlem Licht.

Die Leistung der Hauptpaare Judith Gerber — Karl Musil, Susanne Kirnbauer — Paul Vondrak, Gisela Cech — Michael Birkmeyer, Inge Kozna — Ludwig Musil kann als untadelig bezeichnet werden, Sollen partout einzelne hervorgehoben werden, so wären es die Tänzerin des ersten Satzes und der Tänzer des dritten. — Die Solopaare und das Corps waren mit Eifer und mit der notwendigen Akkuratesse am Werk. Was einigen noch fehlt, ist die absolute Schwerelosigkeit, die Brillanz. Balanchine, der vor der Premiere abreisen mußte, hat der Interpretation seines Meisterwerkes durch die Tänzer der Wiener Staatsoper jedenfalls sein Placet gegeben.

Eines der berühmtesten „expressionistischen“ Ballette hat eine abenteuerliche Geschichte. Bela Bar-tök, von einer Novelle seines Landsmannes Melchior Lngyel angetan, ließ sich von diesem ein Libretto für die Pantomime „Der wunderbare Mandarin“ schreiben. 1918/19 schuf er die gewaltige Partitur, aber die szenische Aufführung wollte niemand wagen, das Sujet schien zu gewagt. Erst 1926 kam es ausgerechnet in Köln zur Uraufführung, aber das Stück, das der damalige Bürgermeister der Rheinmetropole als „Pornographie mit Geräuschen“' bezeichnete, wurde alsbald wieder abgesetzt (Bürgermeister von Köln war 1917 bis 1933 Konrad Adenauer). Auch die geplante Aufführung an einem Budapester Künstlertheater zerschlug sich, und so wurde das inzwischen aus einer Pantomime in ein Ballett verwandelte Werk 1942 unter der Leitung Aurel von Milloss' an der Scala dargeboten. Von da trat es, in eben dieser neuen, die Handlung vertiefenden Gestalt, seinen Siegeszug um die Welt an (Rio, Säo Paulo, Florenz usw.; vor zehn Juhren kehrte der „Mandarin“ nach Köln zurück und wurde vor ausverkauftem Haus vierundzwan-zigrrial gespielt, aber auch dann wollte ihn der ehemalige Bürgermeister, den man extra eingeladen hatte, nicht sehen). Die „Verallgemeinerung“, den typischen Großstadtaspekt, die psychologische Deutung der geheimnisvollen Gestalt des Mandarins, nahm Milloss in engem Kontakt mit Bartök vor: Von einer rotgewandeten Schönen in einen finsteren Winkel gelockt, wird der Mandarin von den drei Strolchen gewissermaßen dreimal „umgebracht“, bevor er sterben kann. Er, der durch Reichtum und Macht Verhärtete, findet erst in der Liebeserfüllung Erlösung. Statt einer Schauergeschichte — ein modernes Liebestod-Drama...

In dem suggestiven, grünblau schillernden Bühnenbild Emanuele Luzzatis agierte Franz Wilhelm einen sich aus Verkrampftheit lösenden Mandarin und Christi Zimmert als Mädchen eine verführerische, aber auch sehr menschliche und facettenreiche Gestalt mit der ihr eigenen technischen Virtuosität. Die zahlreichen gutprofilierten Nebenfiguren entsprechen den Anforderungen des Librettos.

Leonid Massine, 1896 in Moskau geboren, war der weitaus älteste der drei Choreographen dieses festlichen und instruktiven Abends. Er sieht aus wie ein Sechzigjähriger und wohnte der Premiere im Zuschauerraum bei. Massine war mit Unterbrechungen von 1914 bis 1928 in Diaghilews Truppe tätig. Nach dessen Tod schuf er, als einer der ersten, die großen Ballettsymphonien (nach Tschaikowskys Fünfter, der Vierten von Brahms und der Symphonie fantastique von Berlioz). Von 1932 bis 1941 war er Chef des Ballet Russe de Monte Carlo und choreo-graphierte hier einige Ballettkomödien, wie „Der Dreispitz“, „Pulci-nella“ und „Gaite Parisienne“. Das war bereits 1938. Die Musik richtete Manuel Rosenthal nach verschiedenen Piecen Offenbachs ein. Aus jener Zeit stammt auch die Ausstattung des Grafen Etienne de Beau-mont, die einmal ganz hübsch gewesen sein und nach Monte Carlo gepaßt haben mag, auf der Bühne der Wiener Staatsoper nimmt sie sich ein wenig exotisch aus: eine grellbunte, mit Vorhängen und Kerzenleuchtern geschmückte Terrasse eines bekannten Restaurants im Stil der Belle Epoque. Sommernacht und Ferienstimmung, Blumenmädchen und Handschuhverkäuferin, große Damen in Rot und in Grün, ein Baron, ein Offizier, ein Herzog, ein Tanz-meister, Cocodetten, Cancan-Tänzerinnen mit ihrem Tanzmeister und flanierende Dandies. Und ein anschlußbedürftiger Peruaner, der aber allein bleibt, bis zum Schluß. Das ist sozusagen der Witz der Sache. Und das ist ein bißchen wenig.

Trotzdem wirkte das 40 Minuten dauernde Divertimento nie langweilig, vor allem dank der guten Laune der Hauptakteure, der Damen Kirnbauer, Haider, Cyrus, Jaska, der ersten Can-Can-Tänzerin Elisabeth.' Möbius sowie der Herren Karl und Ludwig Musil, Vondrak, Reischvitz und des elegant-virtuosen Tanzmeisters Michael Birkmeyer.

Der gutbesuchte Abend mit viel jugendlichem Publikum bedeutet eine weitere Station auf dem Weg zur Aufwertung des Staatsopernballetts und seiner Veranstaltungen. Zum ungetrübten künstlerischen Gesamteindruck trugen sehr wesentlich die unter der Leitung von Walter Weller sorgfältig einstudierten Partituren bei, darunter eine heikle und eine anspruchsvolle, die so klangschön und prägnant wiedergegeben wurden wie kaum an einem der früheren Ballettabende. So haben auch die Philharmoniker ihren wohlbemessenen Anteil an dem Erfolg dieser drei paradigmatischen Ballette, deren jedes im Sinn Milloss' ein Gesamtkunstwerk sein soll.

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