6723976-1965_23_15.jpg
Digital In Arbeit

Gastspiel des Bolschoi-Ballett

Werbung
Werbung
Werbung

Das Moskauer „Bolschoi-Ballett“ mit seinen 250 Mitgliedern ist heute nicht nur das größte, sondern auch dem glänzendste und virtuoseste Tanzensemble. Seine Geschichte geht bis auf das Jahr 1773 zurück, als das Kuratorium des Moskauer Waisenhauses beschloß, für seine Insassen eine Ballettklasse ins Leben au rufen. Seit 1776 fanden regelmäßig Aufführungen statt. Diese Tanztruppe bildete den Kern der 1780 gegründeten Fetrowski-Theatergasellschaft. Ihr Haus stand an der gleichen Steile wie das des heutigen BolschoiHBalletts, dessen Bühne 26 Meter breit und 23 Meter tief ist. — Viele große Namen von Ballettmeistern, Choreographen,

Musikern und Tänzern sind mit seiner Geschichte verknüpft. Filippo Beccari und Leopold Baradis waren die ersten Lahrer; Guischkowski, Sokalow und Carlo Blasis, Petipa und Iwanow, Gorski und Fokin wirkten hier. Seit 1830 begannen russische Ballerinen Westeuropa zu erobern, und Wladimir Stepanow erfand ein neues System der Notation, das den „Export“ der Massischen russischen Balilette auf die großen Tanzbühnen in aller Welt ermöglichte. In den neunziger Jahren erlebte das Moskauer Ballett eine erste Blüte. Je drei große Werke von Tschaikowsky und Glasunow standen auf dem Programm, ferner Kompositionen von Liszt, Glinka und anderen. Die Primaballerina hieß Anna Pawlowa. Als ihre legitime Nachfolgerin kann Gahna Uia-nowa angesehen werden. Aber das waren, schon-: andere/ZeiteBv'ii9^-be*-i gana- mei “meue^'Äsä? 'und'''um? 10. Jahrestag der Oktoberrevolution brachte das „Bolschoi-Ballett“ Reinhold Gliers großes Ballett „Roter Mohn“ heraus. In den dreißiger Jahren entstand eine Reihe typisch sowjetischer Ballette: „Die Fiamime von Paris“, „Taras Bulba“ und „Der breite Strom“ mit Musik von Schostakowitsch. Während des Krieges wurde ein Teil des „Bolschoi-Balletts“ in den Osten des großen Landes evakuiert, in Moskau verblieb nur eine „Filiale“, die immerhin in der Lage war, im Jahr 1942 noch 126 Aufführungen zu veranstalten. Nach dem Krieg anstanden eine Reihe weiterer, von neuen russischen Komponisten geschaffener Ballette, zu denen in letzter Zeit noch Strawinskys „Feuervogel“ und „Petruschka“ kamen.

*

Bei seinem ersten Gesamtgastspiel In Wien zeigt das Bolschoi-Ballett vier Programme. Der erste Abend war dem dreiaiktigen abendfüllenden Handlungsballett „Die Legende von der Liebe“ gewidmet. Das Libretto verfaßte der aus der Türkei stamimentie Nazim Hikmet, die handfeste, rhythmisch inspirierte, gut tanzibare und ein wenig an Ohatscbaturian erinnernde Musik schrieb Artf Melikow aus Aserbeid-schan, dieChoreographie schuf der neue Ballettmeister des „Bolschoi“, Juri] Grigorowitsch. Die Bühnenbilder und Kostüme des Georgiers Simon Wirsaladse in meist gedämpften Farben (hauptsächlich Grau-Braune-Töne) haben jugendstilhafte Züge, sind aiber wahrscheinlich von viel weiter östlich beheimateten Motiven angeregt. Folkloristisch inspiriert ist auch die Choreographie. Im Libretto geht es zunächst um das Opfer der Königin Mchmene Banu, die, um ihre im Sterben liegende Schwester vom Tod au retten, ihre Schönheit dahin-gibt. Dann verlieben sich beide in den Gärtner Ferhad, der nach einer Wasserqueile sucht, um das dürstende Volk zu tränken und am Schluß als Retter gefeiert wird. Denn er hat sich bei dieser Arbeit durch nichts abhalten lassen, auch nicht durch die Liebe der inawischen böse gewordenen Königin, die dem Volk das Wasser verweigerte.

Diese nicht gerade fesselnde oder gar aufregende Handlung hat Juri) Grigorowitsch tant bien que mal in Einzelnummern und Gruppentänze umgesetzt. Anders, als man es bei uns und andernorts im Westen tun würde, aber nicht ohne Geschick,

und mit bewußter Anknüpfung an die russische Balletttradition. Doch ein Ballett wird vor aUem von den Tänzern gestaltet. Und die sind großartig. Die Primaballerina Maja Plisetskaja verbindet Anmut mit Würde, perfekter Technik mit noblem Ausdruck. Die Darstellerin ihrer Schwester, die sie vom Tode errettet und die bezeichnenderweise Bessmertnova heißt, ist vielleicht noch um eine Spur brillanter, was sie am zweiten Abend („Divertissement“) bewies. Von den Männern seien nur Maris Liepa, der umworbene Held der Arbeit, und Lawren-juk als Wesir erwähnt. Ihre Virtuosität grenzt ans Akrobatische, bleibt aber immer im Dienst des Ausdrucks. Ihre Standfestigikeit ist unwahrscheinlich. Da gibt es kein Wackeln und Zittern. Es ist, als ob man einen Film abstoppte. Am schönsten aber gelingt ihnen der Übergang, der plötzliche Wechsel von dramatisch-stürmischer Bewegung in lyrisch-ruhige.

Das riesige Reservoire, aus dem man beim „Bolschoi-Ballett“ zu schöpfen in der Lage ist, erkennt man etwa daran, daß der Choreograph ganze Gruppen von acht, auch von zwölf völlig gleichgroßen Tänzerinnen vom selben Typ auf die Bühne stellen kann. — Wenn er größere Gruppen des männlichen Ballettoorps auf die Bühne bringt, etwa in dem auf einem rhythmischen Ostinato aufgebauten und in der Art von Ravels „Bolero“ gesteigerten Tanz der Soldaten, Wachen . und Standartenträger erzielt er faszinierende Effekte. Gleichzeitig bekommt man es im Theater an der Wien allerdings auch mit der Angst zu tun: daß einzelne Tänzer durch die Kulissen brechen oder im Orchesterraum landen. Hier saßen die Wiener Symphoniker, die unter der Leitung des versierten und genauen Dirigenten Alexander Kopy-low die umfangreiche und unbe-

kannte Partitur klangprächttg und mit aller wünschenswerten Präzision spielten. Also hatte auch der musikalische Teil dieses Ballettabend, sonst oft arg vernachlässigt, Festspielformat. Desgleichen natürlich der Beifall.

*

Durch den Abend mit dem Titel „Divertissement“ wurde das Bild des „Bolschoi-Balletts“ sehr wesentlich bereichert und ergänzt. Gezeigt wurden — vor wechselnden Htinter-grundvorhängen und in zum Teil prächtigen Kostümen — insgesamt 14 Nummern: Ausschnitte, kurze Szenen, einzelne Genrestücke (auf Musik von Dvofäk, Rachmaninow, Skrjabin und anderen) sowie mehrere Pas de deux aus bekannten klassischen Balletten. Hierbei lernte man zwei großartige Springer kennen: den Finnen Wassili) Wainonen (in einem armenischen Tanz von Ghatschaiturian) und.Wladimir Wasi-lew mit seiner fast ebenso virtuosen und humorbegaibten Partnerin Nina Timofejewna. Als die beiden ausdrucksvollsten unter der jungen Garde erwiesen sich Natalia Bess-mertnowa und Alexander Lawren-juk in einer Melodie von Dvofäk, alls die Schönste der Schönen Jelena Tscherkasskaja, ebenfalls mit La-wrenjuk als Partner in „Drei Stimmungen“ auf Musik von Skrjabin, und als die beiden stürmischesten Tänzer Marina Kondratjewna und Maris Liepa in „Frühlingsquellen“ von Rachmaninow (im Genre und Niveau ein Pendant zu Suldings „Frühlingsrauschen“). Bemerkenswert auch die ebenso eigenwillige wie geglückte Anverwandlung des spanischen Stils in dem „Spanischen Tanz“ aus dem 3. Akt des „Nußknackers“ von Tschaikowsky. Und ebenso bemerkenswert die Anknüpfung an die große Tradition des klassischen russischen Balletts durch die den Abend beschließende Soloszene „Der sterbende Schwan“ nach Saint-Saens. — Leider ließ sich Maja Plisetskaja dazu herbei, diese Nummer zu wiederholen. Aber ein Schwan stirbt nur einmal.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung