6730463-1965_48_09.jpg
Digital In Arbeit

Russische Avantgarde von 1965

Werbung
Werbung
Werbung

Unsere Kenntnis der neueren russischen Musik beschränkt sich auf die Werke von Prokoneff, Schosta-kowitsch, Chatschaturian, Mjaskow-ski, Kabalewski und einiger wenig bedeutender Ballettkomponisten. Drei von den Genannten wurden während der „Schdanowtschina“ — zur Zeit der strengen Kunsterlässe — vermahnt oder gemaßregelt. Aber was seither, etwa während der letzten zehn Jahre, in der UdSSR geschaffen wurde — darüber weiß man bei uns (und gar schon im ferneren Westen) so gut wie nichts. Mit besonderem Interesse sah man daher einem Vortrag von Alfred Uhl, dem bekannten Wiener Komponisten und Lehrer an der Musikakademie, entgegen, der sich auf einer Reise in die Sowjetunion informiert hatte und über das dortige Musikleben sowie speziell über neuere Werke berichtete, die er mittels Tonbändern vorführte.

Auf dem Programm des ausgedehnten Konzerts im großen Vortragssaal der Akademie standen fünf Werke von vier verschiedenen Komponisten. Von ihnen gehören drei den Jahrgängen 1932 bis 1939 an, einer (Georgi Swiridow, geboren 1915) ist der mittleren Generation zuzuzählen.

Der Markanteste ist ohne Zweifel der in Moskau geborene und ausgebildete Rodion Schtschedrin, von dem wir zwei Sätze aus einer 50 Minuten dauernden Symphonie und eine Suite mit dem Titel „Drollige Lieder für Orchester“ (aus dem Ballett „Das bucklige Pferdchen“) hörten. Mit seinem Pathos und den dissonanten Blechbläsern — es gibt im Lauf der beiden Symphoniesätze kaum einen reinen Dreiklang — erinnert Schtschedrin an den späten Honegger, etwa die „Symphonie liturgique“. Die ff-geblasenen Horn-und Trompetentriller lassen vermuten, daß ihm auch die „Pale-strina“-Zwischenspiele von Pfitzner und Mahlers Symphonien nicht unbekannt sind. Originell ist auch die Überleitung vom ersten zum zweiten Satz: das (genau notierte) Einstimmen und improvisatorische Präludieren eines großen Orchesters. — Als Ballettkomponist (Schtschedrin ist mit der Primaballerina des Bol-schoi-Balletts, Plissetskaja, verheiratet) zeigt er ein zweites, ganz anderes Gesicht. Hier scheint er vom frühen Strawinsky („Petruschka und „Pulcinella“) beeinflußt, verwendet parodistisch ein Cornet ä piston, gestopfte Trompeten sowie ein raffiniert behandeltes Jazz-Schlagwerk und zeigt sich mit allen Kniffen einer effektvollen, erfreulich durchsichtigen Instrumentierung vertraut.

Ironie und parodistisches Talent (seltene Qualitäten in der neueren russischen Musik) besitzt auch der I^ruhgrader Boris Tischtschenko. Der erste Satz seines von ihm selbst gespielten, virtuosen Klavierkonzerts klingt so (wir müssen immer wieder zu Vergleichen Zuflucht nehmen, um eine Vorstellung vom Entwicklungsstand der jungen Russen zu geben), als hätte etwa Jean Fran-faix die „Symphonie classique“ von Prokofleff parodiert. Uberhaupt scheint Tischtschenko die französische Musik der dreißiger Jahre, speziell die der „Gruppe der SIX“, gut zu kennen. Ebenso Strawinskys „Concerto in Re“ und „Dumbarton Oaks“. Im zweiten Satz des Klavierkonzerts taucht zu Beginn eine Zwölftonreihe — ohne den letzten Ton — auf, die kräftig harmonisiert und kontrapunktisch parodiert wird.

Der Moskauer Wjatscheslaw Or-tschinikow wurde mit einem noch aus seiner Studienzeit stammenden Klavierwerk vorgestellt. Das Präludium zeigt Skrjabinsche Mischklänge, die ungestüme und brillant durchgeführte Fuge läßt aufhorchen und erfreut durch ihren unakademischen Stil.

Der Älteste schließlich, Georgi Swiridow, erweist sich wohl als der Konservativste, aber zugleich auch als der klanglich Differenzierteste. Seine fünf bezaubernden „Lieder aus Kursk“ für gemischten Chor und Orchester sind (scheinbar absichtlich) jeweil „ä la maniere de“ harmonisiert und orchestriert: das erste in der Art etwa Ködalys, das zweite nach Strawinskys „Noces“ (aber hier mögen gemeinsame Quellen fließen), das dritte exotisch auf der Linie Puccini und Rimsky, das letzte schließlich in Orff-Manier.

In Summa: der Anschluß an den Westen, wenn auch nicht an seine neuesten dodekaphonischen und seriellen Techniken, wird offensichtlich gesucht und ohne Mühe, auch ohne Verleugnung des eigenen Idioms, gefunden. Wovon sich die jungen Russen freilich noch nicht befreit haben, ist der Hang zum Lärm und zu übermäßiger epischer Breite.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung