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Mit Gästen aus Moskau

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Man kann sich gut vorstellen, daß sich ein Orchester unter der Leitung des in Moskau ausgebildeten, einer Musikerfamilie entstammenden, in seiner Heimat als Chef des Bolschoi Tjatr sowie als Chefdirigent der Stockholmer Philharmoniker und Gast in vielen großen Städten der Welt tätigen — daß sich also ein Orchester unter Genadij Roshdest- venkij wie in Abrahams Schoß fühlt. Der kleine, bescheiden wirkende Mann tut nur das Notwendige, aber dies mit absoluter Sicherheit — und Könnerschaft. Die Wiener Symphoniker schienen mit ihm in allerbestem Einverständnis und waren daher den langen Abend über in Hochform.

Auf dem Programm des 4. Konzerts im Zyklus „Die Große Symphonie“ standen ausschließlich wenig bekannte Werke russischer Komponisten. Seine 3. Symphonie, vor genau 100 Jahren komponiert, instrumentiert und uraufgeführt, hat Tschaikowsky, nicht ohne Selbstkritik, seinem Kollegen Rimsky-Kor- salkow gegenüber folgendermaßen charakterisiert (und bewertet): „Wie mir scheint, weist die Symphonie keinerlei sehr glücklich erfundene Ideen auf. In betreff der Form jedoch bedeutet sie einen Schritt vorwärts“ (weil sie nämlich fünfsätzig ist wie die „Frühlingssymphonie“ von Robert Schumann, von dessen Tonsprache sich Tschaikowsky gleichfalls beeinflußt zeigt.) Nach dem 1. Teil ist man geneigt, den Komponisten vor sich selbst ein wenig in Schutz zu nehmen, aber von Satz zu Satz läßt die Spannung bzw.

die Originalität nach, und die das 45 Minuten dauernde Werk beschließende recht fesche Polonaise (nach der diese Symphonie den Bekamen die „Polnische“ erhalten hat), kann den flauen Gesamteindruck nicht mehr verbessern. — Es bleibt also dabei: der große russische Symphoniker fand erst in seiner Vierten zum eigenen, unverwechselbaren Stil.

Aber welches ist nun eigentlich der Stil Prokofieffs? Er ist wandelbar, von Werk zu Werk, hält stets ein gewisses, meist respektables Niveau und zeichnet sich durch Sonorität, einen sozusagen „athletischen“ Charakter und bemerkenswerte Eleganz aus. — Prokofieff, der ein hervorragender Klaviervirtuose war (unvergeßlich die schmale, hochaufgeschossene Gestalt mit den herabhängenden Armen und den Riesenpranken, mit denen er Oktav-Ter- zenketten spielen konnte) gestaltete die Sold seiner Konzerte nach eigenem Maß, d. h. sie sind enorm schwierig. Das op. 16 in g-Moll ist ein ausgesprochenes „Männerkonzert“, das, mehr noch als sein Nachfolger, das berühmte 3. Klavierkonzert, eine extreme physische Leistung erfordert. Ihr war die junge (etwa 25 bis 28jährige) Viktoria Post- nikowa — gleichfalls in Moskau geboren und ausgebildet, gleichfalls auch schon auf Tourneen in Europa und Asien unterwegs — voll und ganz gewachsen. Die üblichen drei Sätze genügen Prokofieff nicht, es müssen vier sein. Aber was die ersten Hörer dieses Werkes, dessen Solopart Prokofieff selbst spielte, zu dem Ausruf veranlaßte: „Das ist doch ein wildes Tier!“ bleibt unerklärlich. Denn das war doch eher ein etwas in Rage geratener Salonkomponist, der sich da im Sommer 1913 in London und Paris hören ließ…

Wesentlich „wilder“ klingt die Skythische Suite „Ala und Lolly“, die Diaghilew — offenbar begierig, den „Sacre“-Skandal von 1913 zu wiederholen — dem jungen Komponisten in Auftrag gab. Es sollte ein mythologisch-heidnisches Thema oder etwas aus der Geschichte Rußlands zu einem Ballett gestaltet werden. Aber die von Prokofieff und dem russischen Dichter Gorodetzky mühsam ausgearbeitete Handlung gefiel dem Besteller nicht. (Der Gott der Skythen Ala soll geraubt werden, was aber der Krieger Lolly mit Hilfe eines anderen Skythencgottes namens Veles verhindert.) Aus dem Ballett wurde also vorerst nichts, aber die Hauptteile der Musik hat Prokofieff 1915 in eine knapp halbstündige Orchestersuite hinübergerettet Vielleicht wäre sie, wenn es Strawinskys „Sacre“ nicht gäbe, berühmter. Denn sie hat einige gute, sehr viele wirkungsvolle Stellen. Doch ersetzt Prokofieff Spannung und Intensität oft durch Lärm. Das schien auch der Dirigent so zu empfinden, denn er machte aus dieser Geschichte keinen Weltuntergang, sondern eher ein lautstarkes Orche- sterdivertttssemant. — Das Publikum dankte allen Mitwirkenden mit jener Zurückhaltung, die dem Unbekannten hierorts häufig entgegengebracht wird.

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