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Der sanfte Drache

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Im Laufe dieses Jahres, am 23. April, könnte Sergej Prokofieff seinen 70. Geburtstag feiern. Durch seinen allzu frühen Tod, am 7. März 1953 (am gleichen Tag, an dem auch Stalin starb), hat die Musikwelt einen der interessantesten und fruchtbarsten Komponisten unserer Zeit verloren. Prokofieff wurde am Petersburger Konservatorium ausgebildet. Er konzertierte und komponierte im zaristischen Rußland, in den USA, in Westeuropa und in der Sowjetunion. Bereits 1912 spielte er in Moskau sein erstes Klavierkonzert und im folgenden Jahr sein zweites. Das war im Jahr des großen Skandals um Strawinskys „Sacre du printemps“ in Paris. 1914 schrieb er jene Partitur, die ihn endgültig in den Verruf eines wilden Novatoren brachte: die „Skythi- sche Suite“. Schon seine ersten Stücke hatten das Publikum und die Kunst- experten schwer schockiert. „Aber das ist doch ein wildes Tier“, soll nach dem Vortrag seines Klavierkonzerts ein Zuhörer ausgerufen haben, und man sprach und schrieb von einem „Debüt des pianisti- schen Kubismus und Futurismus“.

Später ist Prokofieff wesentlich „zahmer“ geworden. Ist dies auf seine im Jahr 1933 erfolgte endgültige Rückkehr in die Sowjetunion zurückzuführen? Wer das Werk Prokofieffs nur oberflächlich kannte und die genannten Frühwerke etwa mit „Peter und der Wolf", der Kantate „Alexander Newski“, der Musik zu dem Ballett „Romeo und Julia“ oder der VI. Symphonie verglich, mochte diese Frage kurzerhand bejahen. Aber die Sache ist komplizierter. Prokofieffs jüngster Biograph, Claude Samuel, hat in seinem vor kurzem in den „Editions du Seuil“ erschienenen Büchlein den Gegenbeweis angetreten. „Trotz aller inhärenter Entwicklung“, heißt es da, „bezeugt Prokofieffs Werk eine bemerkenswerte ästhetische Einheitlichkeit. Der Wechsel der politischen Systeme hat die große Konstante dieses Werkes nicht verändert. Diese heißt Rußland, gleichgültig ob zaristisch oder kommunistische

Thematisch freilich sind zahlreiche

Werke Prokofieffs von dem jeweiligen Aufenthaltsort und der Atmosphäre, in der er schuf, beeinflußt, etwa die Newski- Kantate von 1938, die große Oper „Krieg und Frieden“ nach Tolstoj, „Die Friedensgarde“ von 1950 usw. Aber er schrieb auch, mitten in den revolutionären Wirren von 1917 18, die eklektische „Symphonie classique“, er komponierte im Schatten der Wolkenkratzer von New York „Die Liebe zu den drei Orangen“ nach Gozzi und die urrussischen „Geschichten der Großmutter“, und er schuf 1927 in Paris das Ballett „Le Pas d’Acier“, über das, nach der Aufführung 1931 in Philadelphia, ein Kritiker schrieh: „Ist das noch ein musikalisches Kunstwerk — oder ist es politische Propaganda?"

Prokofieff hatte im Frühjahr 1918 Rußland mit Zustimmung der revolutionären Regierung verlassen und sich auf eine Konzerttournee ins Ausland begeben. 1922 ließ er sich im bayrischen Ettal, ein Jahr später in Paris nieder. 1927 kehrte er in die Sowjetunion zurück und wurde dort triumphal empfangen. Aber schon 1930 ist er wieder.in Amerika. 1933 kehrte er endgültig in seine Heimat zurück, 1938 unternahm er die letzte Auslandstournee, zehn Jahre später erfolgen die heftigen Parteiangriffe auf ihn und seine Kompo- nistenkpllegen Schostakowitsch und Cha- tschatrurian. Trotzdem hat Prokofieff Rußland nicht mehr verlassen …

Wir hörten im Zyklus „Die große Symphonie“ als Mittelstück des von Joseph Krips dirigierten und von den Wiener Symphonikern ausgeführten Konzertes Prokofieffs vief- sätziges, etwa eine halbe Stunde dauerndes 2. Klavierkonzert aus dem Jahre 1913. Und wir sind den Veranstaltern und dem Solisten Shura Cherkassky dankbar für diase Wahl (denn man spielt sonst immer nur das 3. Klavierkonzert von Prokofieff). Das ungebärdige, hochvirtuose Werk (dessen erste, noch schwierigere Fassung übrigens verlorengegangen ist) kann seine Herkunft aus der Schule Mussoreskys und Rymski- Korssakows nicht verleugnen. Aber es bleibt genug des Originellen, durchaus Eigenartigen. Vor allem die nicht zu bremsende dynamische Kraft, die rhythmische Vielfalt und Energie, der melodische Reichtum, die farbige Instrumentierung und der fesselnde Klavierpart, der in Shura Cherkassky einen ebenso sensiblen wie kraftvollen Interpreten fand. Joseph Krips hat mit den Symphonikern das wenig bekannte und schwierige Werk höchst eindrucksvoll musiziert. — So erweckte auch der dritte Satz mit seinen tappenden Baßschritten keineswegs die Vorstellung eines „Drachen, der seine eigenen Kinder verschlingt“, wie ein Kri-

tiker nach der Uraufführung schrieb, sondern eher den eines wirkungsvollen Charakterstücks. Auch beim Publikum, das dem Solisten, dem Dirigenten und dem Orchester lebhaft applaudierte. (Das Konzert wurde mit „Don Juan“ von Richard Strauss eingeleitet und mit der 2. Symphonie von Brahms beendet.)

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