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Von „Giselle“ zur „Carmen-Suite“
An den fünf Abenden mit ihren drei Programmen zeigte es sich, daß die Moskauer nicht nur hervorragende Tänzer sind, sondern daß sie auch zu programmieren verstehen. Man könnte fast von einer Applausregie sprechen. Das schwierigste Werk („Anna Karenina“, über die wir bereits berichtet haben) stand am Anfang. Mit „Giselle“ spielten sie einen ersten Trumpf ihrer hohen Kunst aus. Den zweiten Akt aus ,7Schwanensee“, mit dem der abschließende Galaabend begann, kann man ohne Übertreibung als einen Höhepunkt der klassisch-romantischen Ballettkunst bezeichnen. Und mit der „Carmen-Suite“ zeigten die Russen, daß sie auch die Formen des modernen Tanztheaters beherrschen. Es braucht nur der entsprechende Choreograph vorhanden zu sein ...
An den fünf Abenden mit ihren drei Programmen zeigte es sich, daß die Moskauer nicht nur hervorragende Tänzer sind, sondern daß sie auch zu programmieren verstehen. Man könnte fast von einer Applausregie sprechen. Das schwierigste Werk („Anna Karenina“, über die wir bereits berichtet haben) stand am Anfang. Mit „Giselle“ spielten sie einen ersten Trumpf ihrer hohen Kunst aus. Den zweiten Akt aus ,7Schwanensee“, mit dem der abschließende Galaabend begann, kann man ohne Übertreibung als einen Höhepunkt der klassisch-romantischen Ballettkunst bezeichnen. Und mit der „Carmen-Suite“ zeigten die Russen, daß sie auch die Formen des modernen Tanztheaters beherrschen. Es braucht nur der entsprechende Choreograph vorhanden zu sein ...
Für das Ballett des Bolschoitheaters hat Leonid Lawrowski 1944 (man muß bedenken, was für ein Jahr das für Rußland war!) das zwei-aktige Ballett „Giselle“ nach Gautier, Coralli, Petipa und einigen anderen zum 100. Geburtstag des Werkes neu choreographiert, das heißt in diesem Fall: vorsichtig und geringfügig erneuert. Boris Wolkow gab ihm den entsprechenden romantischen Rahmen: mit einer Dekoration für den ersten Akt, die an die Waldbilder Repins erinnert, und mit einer zweiten von Mondlicht überfluteten ä la Watteau. Daß sich der Anfang ein wenig in die Länge zog — daran war Marina Kondratjewa als Giselle bestimmt nicht schuld: die Perfektion und Reinheit ihres Stils verband sich mit noblem Ausdruck und einer Beseelung, die durch die routinierte Musik Adolphe Adams nicht eben gefördert wird. Was Wladimir Tichonow vielleicht an Kraft und Virtuosität abgeht, ersetzt er durch Einfühlung und noble Haltung. Das Corps zu loben hieße wirklich Eulen nach Athen tragen. Hier sieht man einmal wirklich die legendäre „Schwerelosigkeit“ der Tänzerinnen, unter denen sich Rimma Kareiskaja als Myrtha besonders auszeichnete. Der Dirigent Aigis Schurjatis brachte die Tonkünstler ohne nennenswerte Pannen gut über die Hürden dieser zwar simplen, was die Ausführung betrifft jedoch heiklen Partitur.
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Der Galaabend, mit den beiden Nationalhymnen eingeleitet, wurde mit dem 2. Akt aus Tschaikowskys „Schwanensee“ in der Choreographie Alexander Gorskis eröffnet. Das poetische Bühnenbild schuf Suliko Wirsaladse. Die Hauptpartie der Odette tanzte Rimma Karel-skaja — eine ebenso brillante wie expressive Tänzerin, deren geschmeidige Armbewegungen an die der indischen Tempeltänzerinnen erinnern. Ihr Partner war Maris Hepa, ein
echter Prinz in Haltung und Gebärde, mit fulminanter Technik. Die 24 Schwäne des Corps boten, vor dem romantischen Hintergrund, ein Bild vollkommener Schönheit, alle verdienen genannt zu werden, setzen wir wenigstens die Namen der wichtigsten Tänzerinnen hierher: die Damen Kriutschkowa, Ryschenko, Kolina, Wlasowa, Domaschewskaja, Kochanowskaja und Posnjakowa. Jede ist dazu befähigt, einmal an die erste Stelle zu rücken.
Als Mittelstück des Galaabends folgte ein siebenteiliges Divertissement, bestehend aus Solotänzen und Pas de deux sowie aus „Polonaise und Krakowiak“ aus Glinkas „Leben für den Zaren“ für Corps und acht Solisten. Hier, in Standardnummern aus „Der Korsar“, „Don Quixote“ und „Esmeralda“ konnten vor allem die Angehörigen der jungen Tänzergarde zeigen, was sie an Virtuosität zu bieten haben. Nennen wir nur noch einige der Tänzer: Wladimir Tischonow, Wladimir Ko-schelew und Victor Smirnow, der mit Ludmilla Wlasowa den diesen Teil beschließenden Walzer von Dunajew-ski tanzte. Sehr angenehm unterkühlt war die Darbietung der Glanznummer aller russischen Primaballerinen: „Der sterbende Schwan“ durch Maja Piissetskaja. (Musik: Saint-Saens, Choreographie: Fokin). *
Das weitaus interessanteste, „modernste“ Stück war die 1967 von Alberto Alonso geschaffene „Carmen-Suite“, die durch Boris Messerer eine an Stanislawski erinnernde Ausstattung erhalten hat. Die Musik zu dem 42 Minuten dauernden „Ballett in einem Akt“ schuf Rodion Schtsche-drin, der aus den 27 Nummern der Bizetschen Partitur 13 auswählte und völlig neu instrumentierte: für vielfach geteilte Streicher und vier wechselnd besetzte Schlagwerkgruppen. Manchmal verwendet Schtsche-drin, der Autor der Musik zu „Anna Karenina“, auch nur Motive Bizets,
und er tut es auf eine originelle, zuweilen faszinierende Art, so daß man die Singstimmen der Oper nicht vermißt. Der „Rahmen“ ist eine Arena, von acht schmalen Sesseln mit zwei Meter hohen Lehnen umstellt, darüber ein picassoider schwarzroter Stierkopf. Die Handlung wurde auf die vier Hauptpersonen Carmen, Jose, Torero und Cor-regidor konzentriert. Neu eingeführt hat Alonso eine in schwarzes Trikot gekleidete Figur, von einer Tänzerin dargestellt, die das Schicksal, in der Arena den Stier und den Tod symbolisiert (Natalia Kasatkina). Ihr pantomimisch-schauspielerisches Können zeigt Maja Piissetskaja als
Carmen: spöttisch, ironisch, herausfordernd, leidenschaftlich, aggressiv, blitzschnell den Ausdruck wechselnd und immer die Bühne beherrschend. Um sfe: eine Gruppe hervorragender Tänzer und Pantomimen: Nikolai Fadjejetschew, Sergej Radschenko, Alexander Lawrenjuk sowie drei Tabakarbeiterinnen.
Mit diesem letzten Ballett haben die Moskauer jedenfalls demonstriert, daß sie nicht nur Hüter der großen klassischen Tradition, sondern auch gewillt sind, neue Wege zu gehen. (Am Pult: Aigis Schurjatis, der das Tonkünstlerorchestcr leitete.) Lebhafter Beifall, viele Vorhänge. Helmut A. Fiechtner
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