6768096-1968_42_19.jpg
Digital In Arbeit

Idylle und kultisches Tanzspiel

19451960198020002020

Das Ballett der Wiener Staatsoper hatte während der vergangenen Woche einen großen Abend: Zwei der bedeutendsten und schwierigsten Ballette der ersten Jahrhunderthälfte, „Daphnis und Chloe von Fokine mit der Musik Ravels und „Le sacre du printemps" von Igor Strawinsky, nach einem Szenarium Nicholas Roerichs, wurden von Ballettmeister Wazlaw Orlikowsky neu choreo- graphiert und nach etwa halbjähriger Probenarbeit vorgestellt.

19451960198020002020

Das Ballett der Wiener Staatsoper hatte während der vergangenen Woche einen großen Abend: Zwei der bedeutendsten und schwierigsten Ballette der ersten Jahrhunderthälfte, „Daphnis und Chloe von Fokine mit der Musik Ravels und „Le sacre du printemps" von Igor Strawinsky, nach einem Szenarium Nicholas Roerichs, wurden von Ballettmeister Wazlaw Orlikowsky neu choreo- graphiert und nach etwa halbjähriger Probenarbeit vorgestellt.

Werbung
Werbung
Werbung

Das Unternehmen als solches Ist erfreulich und geeignet, das Mauerblümchen Ballett einen Schritt aus dem Schatten zu rücken, wenn auch nicht alle Details in der Choreographie und in der Ausführung als hundertprozentig geglückt bezeichnet werden können. — Die Schwierigkeiten liegen zum nicht geringen Teil auch in den Werken selbst, deren (häufige) konzertante Darbietung der Phantasie mehr Spielraum läßt als jede konkrete szenische Ausdeutung.

Bereits 1904 hatte Fokine dem Direktor des Kaiserlichen Marientheaters ein auf der griechischen Dichtung des Longus basierendes Ballett vorgeschlagen, dessen besonderes Material nur eines sein könnte, nämlich die Erfüllung der absoluten Schönheit“. Das ist leichter gesagt als ausgeführt. Aber es kann wenigstens teilweise realisiert werden. Wir haben es erlebt, und zwar in der Pariser Großen Oper, mit einer traumhaft schönen Ausstattung durch Marc Chagall („Die Furche“, 1968, Nr. 12). George Ski- blne hielt sich ziemlich genau an das Libretto Fokines, während Orlikow- sky sich eine ganze Reihe von Abweichungen gestattete. Mit diesen schafft er einige sehr „ohrenfällige“ Diskrepanzen zwischen Bühnenaktion und Musik. So zum Beispiel sieht man zu der zauberhaften Musik, mit der die 2. Orchestersuite beginnt, wo Ravel in die Partitur schrieb: „Kein anderes Geräusch als das Rieseln des Taues ln der Morgenröte“, eine recht bewegte Liebesund Eifersuchtsszene, in der die kindliche Chloe von dem Seeräuberhauptmann Bryaxis und Daphnis von dessen Frau bedrängt wird.

Als Protagonisten zeichneten sich Lilly Scheuermann und Michael Birkmeyer, Paul Vondrak, Lisi Maar und Ully Wührer aus. Das Bühnenbild von Günther Schneider-Siems- sen wirkte zunächst etwas düster und erinnerte mit seinem mächtigen Torso des Pan vor der öden Küste von Lesbos an bestimmte Gemälde de Chiricos und Clericis. Die Kostüme von Birgit Hutter waren kleidsam und elegant, ln den Farben zuweilen etwas extravagant und mit einem Stich ins Revuemäßige. Der Gesamteindruck von Choreographie und Ausstattung war zwiespältig (aber keineswegs so schwarz, wie ein deutscher Ballettkritiker in einem Wiener Boulevardblatt unkt).

Strawinsky „Le sacre du prin- temps", 1913, ein Jahr nach Ravels Partitur gleichfalls durch Diaghilews „Ballets russes“ uraufgeführt, ist ein noch schwierigeres Werk. Orlikow- sky hat die kultische Handlung, die in der Opferung der „Auserwählten“ gipfelt, ein wenig verharmlost Gerechtigkedtshalber müssen wir allerdings auch einräumen, daß seine Arbeit im Schatten einiger exemplarischer Choreographien steht, die während der letzten zehn Jahre entstanden sind: der exzentrischen, aber durch ihre Intensität umwerfenden Maurice B6jarts und der großartigen Mary Wlgmans, die bei den Berliner Festwochen gezeigt wurde. Vor allem aber denken wir an den geistigen Anspruch, den Aurel voh Milloss bei solchen Gelegenheiten zu stellen pflegte. Doch hat auch Orllkowskys Gestaltung ihre Meriten: Die mongolisch und kirgisisch stilisierten Schritte, die dekorative Anordnung des großen Ensembles und die Harmonie zwischen der Aktion und dem von Schnelder-Siemssen geschaffenen Rahmen, der von einer glühenden, wie aus Glassplittern gebildeten explodierenden Sonne beherrscht wird — dazu die erdfarbenen Kostüme der Teilnehmer an der kultischen Feier machen zumindest optisch einen gewissen Eindruck. Aus dem Ensemble hervorragend, obwohl in einer mehr passiven Rolle: Christi Zimmerl, jeder Zoll und jede Bewegung eine Auserwählte.

Silvio Varviso hat mit den Philharmonikern die Partitur Ravels vorbildlich klangschön musiziert, bei Strawinsky erlag er der Versuchung, an manchen Stellen einen Heidenlärm zu machen, was man vermeiden soll, obwohl es sich, wie der Untertitel des Balletts lautet, um „Szenen aus dem heidnischen Rußland“ handelt. Dem Dirigenten sei vielmehr die Anweisung Strawin- skys in Erinnerung gerufen, der bei einer konzertanten Aufführung des „Sacre“ einen ebenfalls zu klanglichen Exzessen neigenden Chef d’orchestre bat, er möge diese seine Partitur „plus mozartien“ spielen lassem also so leicht und durchsichtig wie möglich.

Der gehaltvolle Abend war ein großer Publikumserfolg. Mit Recht erhielt das Orchester Sonderapplaus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung