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Aschenbrödel der Staatsoper

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Das Aschenbrödel-Ballett, und speziell das von Proko-fieff und der N. D. Wolkowa, hat seine Geschichte. Allein im 19. Jahrhundert kann der Chronist acht verschiedene choreographische und musikalische Versionen feststellen. In London gab es 1822 und 1838 eine „Cinderella“, in Petersburg 1823 ein „Cendrillon“ von Didelot und 1893 eine „Soluschka“. Aber seit Proko-fieffs Ballett nach dem abendfüllenden Szenarium von N. D. Wolkow (nach manchen Ballettführern Wolkowa, also eine Dame) sind alle früheren Fassungen verdrängt worden. Im Auftrag des Leningrader Kirow-Ensembles begann Sergei Prokofieff, der etwa ein halbes Dutzend Ballette geschrieben hat, seine Partitur im Jahr 1941, die, durch den Krieg unterbrochen, 1944 abgeschlossen wurde. Damals befand sich das gesamte Kirow-Ensemble weit vom Schuß nahe am mittleren Ural, in Molotow. Und dort, nicht im Moskauer Bolschoi Tjatr, wie man zuweilen lesen kann, fand noch im gleichen Jahr die Uraufführung statt. Erst nach Kriegsende kam „Soluschka“ nach Moskau und etwas später auch nach Leningrad, in das Stammhaus der berühmten Truppe, wo die Ulanowa und die Lepeschinskaja alternierend die Titelpartie tanzten. 1948 lernte die westliche Welt das neue russische „Aschenbrödel“ in einer Inszenierung Frederick Ashtons bei Satller's Wells kennen.

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Das Aschenbrödel-Ballett, und speziell das von Proko-fieff und der N. D. Wolkowa, hat seine Geschichte. Allein im 19. Jahrhundert kann der Chronist acht verschiedene choreographische und musikalische Versionen feststellen. In London gab es 1822 und 1838 eine „Cinderella“, in Petersburg 1823 ein „Cendrillon“ von Didelot und 1893 eine „Soluschka“. Aber seit Proko-fieffs Ballett nach dem abendfüllenden Szenarium von N. D. Wolkow (nach manchen Ballettführern Wolkowa, also eine Dame) sind alle früheren Fassungen verdrängt worden. Im Auftrag des Leningrader Kirow-Ensembles begann Sergei Prokofieff, der etwa ein halbes Dutzend Ballette geschrieben hat, seine Partitur im Jahr 1941, die, durch den Krieg unterbrochen, 1944 abgeschlossen wurde. Damals befand sich das gesamte Kirow-Ensemble weit vom Schuß nahe am mittleren Ural, in Molotow. Und dort, nicht im Moskauer Bolschoi Tjatr, wie man zuweilen lesen kann, fand noch im gleichen Jahr die Uraufführung statt. Erst nach Kriegsende kam „Soluschka“ nach Moskau und etwas später auch nach Leningrad, in das Stammhaus der berühmten Truppe, wo die Ulanowa und die Lepeschinskaja alternierend die Titelpartie tanzten. 1948 lernte die westliche Welt das neue russische „Aschenbrödel“ in einer Inszenierung Frederick Ashtons bei Satller's Wells kennen.

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Es ist so recht ein Stück nach dem Geschmack des Wiener, aus Rußland stammenden Ballettmeisters OrK-kowsky, der „Aschenbrödel“ an verschiedenen Bühnen viermal choreo-graphiert hat: abendfüllend, in fünfzig Bildern, mit mehr als 300 Kostümen, eine Riesenshow mit höchst bescheidenen geistigen und künstlerischen Ansprüchen. Neben „Dornröschen“ und „Nußknacker“ wäre es die ideale Unterhaltung für Kinder am Sonntagnachmittag. Aber die gibt es bei uns ja schon lange nicht mehr und wird sie so bald auch nicht geben ... Es als einziges Werk der Saison 1969/70 herauszustellen, dem voraussichtlich keine weitere Ballettpremiere mehr folgen wird, scheint wenig verantwortlich, jedenfalls anfechtbar. — Als Trainingsobjekt freilich mag gerade dieses Monsterbal-letit, das im Lauf von zwei Stunden den Auftritt aller Solisten, von denen 40 im Programm namentlich genannt sind, und des gesamten Corps erlaubt, geeignet sein. Es war der Wunsch der Autoren dieses Balletts, die Märchengestalten insoweit zu vertiefen, gesellschaftlich zu aktualisieren, daß der Zuschauer an ihren Schicksalen und Gemütsbewegungen teilnimmt. In der Choreographie Orlikowskys ist dies nur zum Teil gelungen. Es gab eine große Show, viel Clownerie, allerlei Exotisches und Folkloristisches, aber wenig wirklich durchgezeichnete Figuren und konsequent ausgeführte Motive. In der Hauptrolle wächst Susanne Kirnbauer, anmutig und technisch hervorragend, allmählich mit ihrer Partie und entwickelt sich aus dem Aschenbrödel zu einer glaubwürdigen Prinzessin. Franz Wilhelm ist ein nobel-kühler Prinz ohne besondere Ausstrahlung (ein Nurejew hätte diese Produktion vielleicht retten können); beweglich und virtuos: Paul Vondrak als Narr; die beiden bösen Stiefschwestern scharf charakterisierend: Dietlinde Kiemisch und Christi Zimmerl sowie Helmut Reischütz als Stiefmutter. — Im Reigen der Jahreszeiten gab es schöne, virtuose, zum Teil auch poetische Gestalten und Tänze: Gisela Cech, Theresia Karl, Lilly Scheuermann und Judith Gerber. Besonders hübsch und sauber getanzt: das balinesische Prinzenpaar (Erika Zlocha und Peter Kastelik) sowie die von Gisela Cech angeführten kaukasi-

schen Prinzessinnen. Das Corps, aber auch kleinere Gruppen, zeigten, wann immer sie auftraten, nicht nur Disziplin, sondern geradezu Drill. Über die Choreographie Orlikowskys ist nicht viel zu sagen, zumal wir keine Vergleichsmöglichkeiten haben. Manches machte er recht geschickt und dekorativ, mehrere Pointen ließ er sich entgehen. — So zog sich dieser dreistündige, von zwei großen Pausen unterbrochene Abend mit echt russischem Tempo in die Länge

und Breite — wie „Krieg und Frieden“ oder „Der Idiot“, nur ohne deren Spannung und Tiefgang... Die Bühnenbilder von Günther Schneider-Siemssen waren sehr ungleichwertig: die Interieurs meist zu düster, und die Projektionen im Hintergrund hatten den Stil „große Oper“. Das alles hätte viel lustiger und farbenfreudiger sein können: märchenhafter, mit einem Wort. — Leo Beis Kostüme (mehr als 300) gefielen besser, es gab ausgesprochen

schöne darunter, so zum Beispiel die der balinesischen Gruppe. Reinhard Schwarz hatte eine hierzulande unbekannte Partitur einzustudieren und mit den Tänzern zu koordinieren, von der Prokofieff schrieb: „Man muß beim Komponieren einer solchen Musik besonders vorsichtig sein, damit die Melodie einfach bleibt und dabei nicht billig, süßlich oder epigonal wirkt. Das ist leicht gesagt, aber schwer getan.“ Es gibt in dieser Riesenpartitur viele gute Stellen, interessante Modernisierungen alter Tanzformen, wie Pavane, Bourree, Gavotte, Galopp, Mazurka und, vor allem, einen langen Ballakt im Dreivierteltakt mit einem schönen, echt russisch-melancholischen Walzer, dazwischen freilich auch lange Strecken musikalischer Meterware, die man mit ein bißchen mehr „Pfiff“, wie die Deutschen sagen, vorteilhafter hätte präsentieren können. Jedenfalls aber waren die Buhrufe von der unerzogenen Galerie herab keineswegs gerechtfertigt.

Bilanz: Das Plansoll wurde erfüllt, wir haben ein großes Ausstattungsballett mehr im Repertoire, in dem es viel zu sehen und zu hören gibt. Wiens Ballettliebhaber allerdings hatten sich vom einzigen Premiereabend des Aschenbrödels der Wiener Staatsoper, dem Ballett, Interessanteres und Besseres erwartet.

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