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Balanchines Ballet blanc

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Vom 29. September bis 4. Oktober gastierte im Theater an der Wien das New York City Ballet. Das berühmte, seit 1948 existierende Ensemble, aus der 1933 von Lincoln Kirstein und George Balanchine gegründeten School of American Ballet hervorgegangen, ist auf seiner sechsten Europatournee, die nach dem Wiener Gastspiel zum erstenmal auch in die Sowjetunion führen wird. Vielleicht begegnet man dort gerade noch Igor Strawinsky, der für das Ballett zehn größere Partituren geschaffen hat und dessen langjähriger Freund und Leibchoreographie, sozusagen, Balanchine ist...

Die Russen werden staunen über das, was sie da zu sehen bekommen. Während nämlich ihr klassisches Ballett (das über eine große Anzahl vorzüglicher und hervorragend trainierter Solisten verfügt) ganz und gar im Traditionellen und Schematischen steckengeblieben ist (das bezieht sich auch auf die Ausstattung, zum Teil auch auf die Kostümierung), hat Balanchine, der ebenfalls vom klassischen Ballett herkommt, dieses durch Aufnahme neuer Elemente, nicht zuletzt auch in Verbindung mit der neuen Musik, vollständig erneuert. Er hat ihm einen neuen Geist eingehaucht und ihm einen Rang verliehen, der es gleichwertig neben die anderen Künste stellt.

Der gebürtige Georgier Balanchivadze kam als Zehnjähriger auf die kaiserlich-russische Ballettschule in Petersburg. Das war zu Beginn des ersten Weltkriegs. Als unter dem neuen Regime das Institut wiedereröffnet wurde, studierte er weiter und wollte Choreograph werden. 1923 veranstaltete er die „Abende des jungen Balletts“ und ging auf eine Auslandstournee, von der er nicht mehr zurückkehrte: Diaghilew hatte die ganze Balletttruppe samt ihrem Leiter übernommen. Seither heißt er Balanchine und wurde der Magister elegantiarum des zeitgenössischen Tanztheaters.

Balanchines Schönheitsideal ist das des klassischen Balletts. Alles hat Maß und Ordnung. Er liebt das Schöne und Harmonische mehr als das Charakteristisch-Expressive. Das bemerkt man auch bei der Auswahl seiner Tänzer. Und er ist von einer Musikalität, die vor ihm kaum irgendein Choreograph besessen noch einer seiner Zeitgenossen beim Tanztheater hat. Daher liebt und kultiviert er vor allem das Ballet blanc, das handlungslose Ballett. Abendfüllende Werke meidet er, und wenn er einmal ein Ballet d'action macht, so reduziert er die Handlung auf das Notwendigste, auf ihr Gerippe gewissermaßen. „Ich überlasse es dem Publikum, meine Choreographie zu deuten“, sagt Balanchine, und: „wenn man älter wird, dann wendet man sich vom Überflüssigen ab und dem Wesentlichen zu.“

Im Rahmen der drei Programme, die Balanchine mit seiner Truppe im Theater an der Wien zeigte, sind die folgenden Ballette die eindrucksvollsten Zeugnisse von Balanchines Kunst und Schönheitsideal: „Raimonda-Variationen“ nach Musik von Glazunow, „Symphonie in C“ von B i z e t, „Serenade“ nach Tschaikowsky und „A g o n“ von Strawinsky. Der simplen Musik von Rieti zu „La Sonnambula“ nach der Oper Bellinis mit ihrer Schauerromantik ist freilich auch Balanchine nicht gewachsen, und zuweilen muß er Wasser — nein, Schlimmeres: Coca-Cola — än seinen guten Wein gießen. Hierfür war „Western-Symphony“ nach einer unbeschreiblich banalen Musicalmusik von Hershy Kay ein betrübliches Beispiel. Solche Dinge drücken auf das Niveau des ganzen Abends. Aber ihr Erfolg gibt dieser „Politik“ leider recht.

In Lincoln Kirstein hat Balanchine den idealen administrativen Partner, in Je-rome R o b b i n s einen Stellvertreter, der es verstanden hat, typisch amerikanische Elemente mit dem Stil des klassischen Balletts zu amalgamieren. Die gesamte Truppe besteht aus 90 Personen. Unter diesen gibt es mindestens ein Dutzend erstklassiger Tänzerinnen und etwa ein halbes Dutzend guter Tänzer: Diana Adams, Melissa Hay-don, Jillana, Allegria Kent. Patricia Mac-Bridge, Violette Verdy, Patricia Wilde; Jacques d'Amboise, Conrad Ludlow, Ni-cholas Magallanes, Arthur Mitchell. Francisco Moncion, Edward Villela und Jonathan Watts. (Wie man sieht: einmal ein Ballettensemble ohne russische Tänzer. Das ist das Werk des Pädagogen Balanchine, der dem jungen Amerika ein nationales Ensemble von internationalem Rang herangebildet hat.)

Balanchine scheint es auch gelungen zu sein, mit der beiläufigen, oft recht störenden Orchesterbegleitung aufzuräumen. In Robert Irving und Hugo F i o r a t o hat er Dirigenten nicht nur mit Praxis und Routine, sondern auch von einem gewissen Rang. Unter ihrer Leitung spielte ein Ensemble der T o n k ü n s 11 e r, verstärkt durch Mitglieder des Volksoper n-orchesters, wesentlich schöner und sauberer, als wir es bisher bei einem Wiener Ballettabend gehört haben. Ein besonders imposantes Beispiel war „Agon“ von Strawinsky, eine rhythmische, vertrackte, mit ihrem „durchbrochenen Stil“ äußerst heikle Partitur, die vom Orchester sehr respektabel gespielt und von Balanchine auf überzeugende Art ins Optische transponiert wurde. Hier hat Balanchine auch von seinen Tänzern ein Äußerstes an Konzentration und Virtuosität gefordert. Daß das Publikum diese Leistung trotz der spröden Musik zu schätzen wußte und nach iedem der 14 kurzen Sätzchen applaudierte, gibt Hoffnung, daß auch Wien allmählich ein Ballettpublikum bekommen wird.

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