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WIE ARBEITET DER CHOREOGRAPH?

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Ballettregisseure und die Choreographie selbst sind von einem dichteren Schleier der Mystik und des Mißverständnisses umhüllt, weit mehr als die Schöpfer und Werke irgendeiner anderen Kunstgattung. Hierfür gibt es historische und praktische Gründe, beide ausschlaggebend: Das Ballett ist eine junge Kunst, die sich nur zögernd entwickelte. Dieser Umstand und die Vielfalt von Bedingungen, die erst einmal erfüllt werden müssen, ehe zweckmäßige Choreographiearbeit zustande kommen kann, sind daran schuld, daß das Ballett so wenig schöpferische Künstler von Format hervorgebracht hat. Hierzu kommt die ungeheuer bedeutungsvolle Tatsache, daß es bis vor kurzem keine allgemein akzeptierte Tanz-„Notenschrift“ gab und daß es dem Balletthistoriker demnach praktisch unmöglich war, die meisten Werke früherer Epochen zu studieren.

Gleichwohl wäre es unehrlich, wenn man die Schuld nur auf die widrigen Umstände sęhieben wollte. Bedauerlicherweise sind die Ballettmeister selbst daran schuld, daß ihre Kunstform und deren Protagonisten im Schatten stehen. Von ein paar Titanen — besonders Noverre und Fokine — abgesehen, die sowohl Revolutionäre wie Kunstschöpfer waren und schriftliche Aufzeichnungen über ihre Ideen hinterließen, scheinen Choreographen nicht nur traditionellerweise die Öffentlichkeit zu scheuen, sondern weder gewillt noch befähigt zu sein, eine genaue Analyse ihres Handwerks vorzunehmen.

TDhn Cranko, der künstlerische Leiter des Balletts des Würt- tembergischen Staatstheaters in Stuttgart, inszenierte in London unter anderem Bachs Brandenburgische Konzerte Nr. 2 und 4 und Jeu de Cartes von Strawinsky, und ich fand bei einem Gespräch, daß es sich da um einen Choreographen handelte, der ganz ungewöhnlich beredt über seine Kunst Auskunft gibt. — Wie geht Cranko zu Werke? Im Anfang ist die Musik. Er würde nie ein Szenar wählen und sich dann erst nach einer geeigneten Partitur umsehen, wie Ashton es mit seinem berühmten „Maguerite und Armand“ nach Dumas’ „Kameliendame“ getan hat. Cranko sagt:

„Wenn ich die Musik einmal gewählt habe, trete ich in eine Art intimer Beziehungen zu ihr. Es ist wirklich wie ein Liebesverhältnis, in dem ich zuerst eine passive Rolle spiele und mich am Ende in den aktiven Partner verwandle. Im ersten Stadium — dem passiven — höre ich mir die Musik immer wieder an, ohne an etwas Konkretes zu denken und ganz bestimmt ohne sie zu analysieren. Ich lasse mich von ihr überwältigen. Dann erst, ganz langsam, komme ich darauf, daß ich positiver werde, etwa indem ich gewisse eigene Empfindungen der Musik auf dränge. Das ist der Beginn der zweiten, aktiven Phase.“

Das dritte Stadium in Crankos schöpferischem Prozeß beginnt bei der ersten Probe im Atelier. Jetzt erst verwandelt er seine musikalischen Eindrücke in Tanzschritte und choreographische Figuren. Er sagte dazu:

„Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich die Schritte selbst zu Hause ausarbeite, das hieße ein Ballett weitgehend ohne Tänzer zu gestalten. Sicherlich, auch Ashton und MacMillan kommen zur ersten Probe ohne genaue Vorstellung über die Schritte oder Figuren, die sie einrichten werden. Ich war erstaunt, als MacMillan einmal nach Stuttgart kam, um mit meinem Ensemble ein Ballett zu Mahlers ,Lied von der Erde’ zu inszenieren. Das ist ein wirklich abstraktes Ballett mit vierzig Minuten einer enorm komplizierten Musik. Und doch schien MacMillan nicht einmal so weit gegangen zu sein, wie ich in meiner üblichen Analyse der Musik vor den Proben. Er wandte sich oft an den Pianisten und fragte: ,Wie zählen diese Takte, bitte?’"

Für Cranko wie für Ashton oder MacMillan spielen die Tänzer eine bedeutsame Rolle, wenn auch nur im dritten Stadium des Schaffensprozesses. Dies war besonders in „Brandenburg Nr. 2 und 4“ deutlich sichtbar, wo auch das kürzeste Solo dem Stil und der Persönlichkeit des betreffenden Tänzers angepaßt schien. Trotzdem forderte Cranko seine Tänzer niemals auf, selbst Schritte vorzuschlagen. Er teilt ihnen mit, was sie zu tun haben und ändert so lange, bis er mit dem Ablauf zufrieden ist.

„Ich glaube, daß die Einstellung zu den Tänzern und die Art der Probenleitung für den Choreographen charakteristisch sind. Bei Ashton habe ich zum Beispiel den Eindruck, daß seine Probenarbeit eine Art von Wunscherfüllung ist, ein Weg, um eine ganze eigene Welt zu erschaffen. Er wählt demnach Tänzer, auf die er seine Ideale projizieren kann, und fordert sie oft auf, selbst Schritte zu kreiieren, die er später weiter gestaltet. Dies gilt besonders für Margot Fonteyn, und man hat den Eindruck, daß sie sein Bestreben vollkommen erfüllt, in gewissem Sinne ist sie Ashton. Bei MacMillan ist die Sache anders. Ich glaube, daß er in seinen Balletten die Tänzer und schließlich das Publikum zu sich selbst führt, zu seiner, MacMillans, komplizierten Aufassung und Persönlichkeit.“

Zum Schluß sprach Cranko von seiner eigenen Tanzgruppe in Stuttgart, wo offensichtlich der größere Teil seiner choreographischen Zukunft liegt. Er glaubt, daß eine Balletttruppe drei grundlegende Aufgaben zu erfüllen hat: Sie muß zuerst ein „Museum“ für die großen klassischen Ballette der Vergangenheit, wie „Gisėle“, „Schwanensee“ und „Dornröschen“, sein, muß ferner Unterhaltung in der Form leichter Ballette bieten und schließlich mit neuen Werken zum zeitgenössischen Kunstschaffen beitragen. Ebenso wie Bėjart — der sagte, daß Tanz eine Kunst des 20. Jahrhunderts ist, junge Leute weitgehend beeinflußt und „ein breiteres Publikum erfassen“ sollte — will Cranko vermeiden, daß man gegen seine Truppe den gleichen Vorwurf erhebt wie gegen das Ballett als solches: Daß es nämlich als Kunstform dem vergangenen Jahrhundert angehört und nicht imstande ist, sich dem Sinn der modernen Zeit anzupassen. Sogar seine Einstellung zu den Klassikern ist manchmal unorthodox:

„Ich bin überzeugt, daß man an diese Ballette immer unter neuen Gesichtspunkten herantreten sollte und versuchen muß, ihnen eine neue Bedeutung zu geben, zum Beispiel ,Schwanensee’. Ich inszenierte das Werk vor kurzem wieder für meine Gruppe. Wir änderten den Schluß vollkommen.“ John Cranko ist zweifellos einer der artikuliertesten und klarsten unter den zeitgenössischen Ballettmeistern. Seine Arbeit in Stuttgart mit den jungen Kollegen stellt jetzt bereits einen wesentlichen Beitrag zur Definition von Kunst und Handwerk der Choreographie dar. Vielleicht wird er eines Tages Zeit finden, eine detaillierte Arbeit über sein Thema zu schreiben, die seine unschätzbaren Kenntnisse und Erfahrungen einer späteren Generation zugänglich macht.

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