Lehren aus dem Fall Luca

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Das Jugendwohlfahrtsgesetz des Bundes soll novelliert werden. Geht es nach Experten, bedarf es einer radikalen Reform.

Sie wird von Fachleuten schon allzu lange gefordert: eine umfassende Reform des Jugendwohlfahrtsgesetzes, um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt, Misshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch auf behördlicher Ebene zu verbessern. Es bedurfte aber erst eines tragischen Falles, um den Reformwillen im Familienministerium zu beschleunigen: Im vergangenen November verstarb der 17 Monate alt Luca aufgrund schwerster Misshandlung in einem Wiener Spital. Am Mittwoch, dem 7. Mai, wäre der kleine Bub aus Tirol zwei Jahre alt geworden (siehe unten).

Familienministerin Andrea Kdolsky (ÖVP) hatte anlässlich des tragischen Falles eine große Novelle des Gesetzes für das erste Halbjahr angekündigt. So schnell ging es zwar nicht, aber der Reformprozess ist nun im Gang und soll nach Angaben des Ministeriums im Herbst den Ministerrat passieren. Zahlreiche Experten, Vertreter von Interessensgruppen und Verbänden arbeiten zur Zeit in drei Arbeitsgruppen (siehe Kasten) an einem Reformkompromiss. An Vorschlägen mangelt es nicht.

"Chancengesetz"

"Uns ist wichtig, dass nicht ein Feuerwerk abgeschossen wird und dann ist 18 Jahre Ruhe, sondern dass das Jugendwohlfahrtsgesetz alle ein bis zwei Jahre thematisiert wird", sagt Michael Gnauer vom SOS-Kinderdorf. Der Sozialarbeiter ist federführend an der Umsetzung der Reformvorschläge des SOS-Kinderdorfes beteiligt, die in ein "Chancengesetz für Kindeswohl und Jugendhilfe" mündeten. Mit weiteren Institutionen bzw. freien Jugendwohlfahrtsträgern wie Pro Juventute oder den Kinder- und Jugendanwaltschaften schloss sich das SOS-Kinderdorf zur Interessensgemeinschaft "Chancengesetz" zusammen, um die Forderungen in den Reformprozess einzubringen:

* Zunächst müsste ein "Jugendwohlfahrtsbeirat" geschaffen werden, der ungefähr alle zwei Jahre im Parlament über den Stand des Kinder- und Jugendschutzes im Land berichtet, so wie es auch die UN-Kinderrechtskonvention einfordert, erklärt Gnauer. Der Vorschlag nach einer möglichst unabhängigen wissenschaftlichen Ebene wird auch von weiteren Experten erhoben, etwa von Silvia Rass-Schell, Abteilung Jugendwohlfahrt des Landes Tirol: Um den behördlichen Kinderschutz zu verbessern, brauche es "die Implementierung eines interdisziplinären und unabhängigen Kompetenzteams. Fachexperten aus der Praxis sollen mit Wissenschaftlern das Aufgabengebiet der Jugendwohlfahrt beleuchten." Die Ergebnisse der Forschung könnten auch Grundlage für eine (weitere) Novellierung des Gesetzes sein.

* Schon allein der Titel "Jugendwohlfahrt" ist der Interessensgemeinschaft ein Dorn im Auge, sie würde lieber von einem "Chancengesetz" sprechen; da es darum gehen soll, allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen für den Start ins Leben zu gewährleisten. Daher sollte auch jedes Kind Rechtsanspruch auf Leistungen der Jugendwohlfahrt haben, wie Michael Gnauer erklärt: Kinder dürften nicht zu Almosenempfänger der öffentlichen Hand werden. Auch junge Erwachsene, also ab 18 Jahren, sollten noch Anspruch auf Unterstützung durch die Jugendwohlfahrt haben.

* Präventionsangebote würden zwar stets angekündigt, müssten aber auch mit konkreten Anleitungen und Kontrollen implementiert werden, fordert die Interessensgemeinschaft. Hier schließt sich die Forderung von Georg Dimitz an, Personalvertreter des Berufsverbandes der Sozialarbeiterinnen und viele Jahre im Wiener Amt für Jugend und Familie tätig. Es brauche dringend eine bedarfsorientierte Aufstockung des Personals. "In Wien sind Gefährdungsmeldungen zwischen 2001 und 2007 um 113 Prozent gestiegen, der Personalstand blieb aber gleich", beklagt Dimitz, der von einem bundesweiten "Notstand" spricht. Das erhöhe natürlich die Fehlerquote. Es gebe nur "minimale Verbesserungen" in diesem Bereich seit dem Fall Luca. Zudem fehlen laut Dimitz immer noch Ausbildungs- und Fortbildungsstandards für das Personal der Jugendwohlfahrt.

* Die Verwaltungspraxis in den Bundesländern müsse verstärkt vereinheitlicht werden, betont Michael Gnauer, da sie teilweise diskriminierend sei. So würde etwa in manchen Ländern Kindern, die von der Jugendwohlfahrt betreut werden, eine Zahnregulierung bezahlt, in anderen nicht. Gnauer oder Dimitz würden zwar ein bundesweit einheitliches Jugendwohlfahrtsgesetz begrüßen, zeigen sich aber realistisch dahingehend, dass sich Ministerin Kdolsky nicht mit dem Föderalismus anlegen werde; was sie Angaben aus ihrem Büro zufolge auch tatsächlich nicht tun wird. Grundsätzliche Standards, die für alle Länder gelten, müssten aber präzisiert werden, so die Experten.

Größter Bremser: das Geld

* Die Betreuung von Kindern und Jugendlichen sollte nach deren Bedürfnissen und nicht nach vorgegebenen Zuständigkeiten von Behörden erfolgen, kritisiert Gnauer. So komme es vor, dass Jugendliche als psychisch krank eingestuft werden müssten, auch wenn sie es nicht sind, um einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft zu erhalten.

Dass eine gute Kinder- und Jugendschutzarbeit um einiges mehr kosten müsse, als es jetzt der Fall ist, darüber sind sich alle einig. Dimitz kritisiert, dass in den letzten Jahren "das Diktat des Rotstiftes" den Bereich regiert habe. Familienministerin Kdolsky wollte sich noch nicht auf einen finanziellen Rahmen festlegen. Zunächst würde man die Ergebnisse der Arbeitsgruppen abwarten. Ende Mai/Anfang Juni sollte es einen ersten Zwischenbericht geben, hieß es aus ihrem Büro.

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