Gebetsschal und Geometrie

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Chagalls Frühwerk zwischen Schtetl, Zarenreich und dem Paris der Kubisten in einer faszinierenden Schau in Wien.

Die Kerzen sind weit heruntergebrannt, und die Flämmchen glitzern heute in der unschuldigen Luft." Ein gefühlsschwangerer Satz, wie er kaum besser zur Weihnachtszeit passen könnte - geschrieben von keinem geringeren als Marc Chagall. In seiner Autobiografie Mein Leben schildert der damals 35-jährige russisch-französische Maler mit poetischem Reichtum und bewusst naiver Fabulierfreude die Welt des Schtetl, das Russland des zusammenbrechenden Zarentums - aber auch das Paris der Kubisten und Fauvisten. Chagall beendet seine Ausführungen im Jahr 1922, als er beschloss, Russland endgültig den Rücken zu kehren.

Von Russland nach Paris

Bereits als knapp 20-Jähriger hatte Chagall, 1887 als Moshe Segal im jüdischen Ghetto der weißrussischen Kleinstadt Witebsk geboren, seine Heimat verlassen, um in Paris Kunst zu studieren. Chagall bezog ein Atelier im Künstlerviertel Montparnasse - und er nahm an wichtigen Ausstellungen teil. Die Begegnung mit der Avantgarde-Literatur Guillaume Apollinaires, mit der kubistischen Malerei Fernand Légers und der orphistischen Robert Delaunays prägt Chagalls Kunstbegriff. Zugleich bleibt er den Themen und Motiven seiner russischen Heimat stets treu. Auch wenn aus Moshe Segal Marc Chagall geworden war, pflegte der äußerst erfolgreiche Maler sein Leben lang Werte seiner ostjüdischen Herkunft wie Schlichtheit und Genügsamkeit. Chagall hatte sich zwar dem traditionellen Bilderverbot widersetzt und war somit zum einzig international erfolgreichen ostjüdischen Künstler avanciert, anders als El Lissitzky verleugnete er seine Herkunft aber nie. Im Gegenteil: Chagalls Unverkennbarkeit ist eng mit der Bezugnahme auf seine dörfliche Heimat verbunden.

Nach einem Besuch seiner Familie in Witebsk verhindert der Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Rückkehr nach Paris. Die Jahre im Moskau der beginnenden 20er Jahre werden zu den künstlerisch bedeutsamsten. Chagall entwirft hier Bühnenbilder, Kostüme und Wandgemälde für das Jüdische Theater.

Der fruchtbaren Zeitspanne von 1908 bis 1922 widmet sich jetzt eine Ausstellung im BA-CA Kunstforum - genau zwei Jahre, nachdem die Albertina zur Vorweihnachtszeit das Spätwerk Chagalls und dessen Auseinandersetzung mit der Bibel gezeigt hat. Die Schau schmückt sich mit dem Untertitel Meisterwerke, häufig ein inhaltsleeres Etikett der Marketing-Abteilung einer Kunstinstitution. In diesem Fall finden sich tatsächlich mehrere Meisterwerke unter den gezeigten Exponaten - Leihgaben aus renommierten Museen wie der Moskauer Tretjakow-Galerie, des Staatlichen Russischen Museums in St. Petersburg oder dem New Yorker MOMA.

Dies erfreut umso mehr, da man von Chagall durch eine Überfülle an Postkarten-und Kalenderdrucken eigentlich die Nase voll hat. Die frühen Originale wie Der Spaziergang (1917-1918) oder Der Jude in Rot (1915) lassen einen aber wieder das Staunen über diesen Maler lernen, dem es wie keinen Zweiten gelang, innovative stilistische Tendenzen der Avantgarde mit erzählerisch-traditionellen Themen aus seiner jüdischen Umgebung zu verbinden. Es sind die traumhaft-surreale Welt der fliegenden Liebespaare und Tiere, der verkehrt oder schief stehenden Holzhäuser und der musizierenden Stehgeiger - aber auch die unwirkliche Farbigkeit, der flächenhaft unperspektivische Bildaufbau und die malerische Dynamik, die Chagalls Bilder bis heute so begehrenswert machen. Um Chagalls Bilderwelt mit ihren jüdischen Wurzeln besser verstehen zu können, bekommt man im Rahmen der Kunstforum-Schau auch die Möglichkeit, das Jüdische Museum zu besuchen, wo einem in einer Chagall-Sonderführung ein Blick auf das Leben im Schtetl eröffnet wird.

Wurzeln in jüdischer Welt

Höhepunkt der Ausstellung sind die im Hauptraum des Kunstforums präsentierten monumentalen Bilder für das Jüdische Theater in Moskau. Die aus mehreren Leinwänden bestehende vielschichtige Komposition schuf Marc Chagall innerhalb kürzester Zeit im Jahr 1920. In der eindrucksvollen drei Meter breiten und acht Meter langen Leinwand Einführung in das jüdische Theater schuf Chagall mittels Farben und Formen eine Neudefinition des Jüdischen Theaters, indem er das Karnevaleske und das Phantastisch-Surreale betonte. Zugleich hat er auf diesem Breitband-Bild sein malerisches Programm und seine favorisierten Motive nahezu filmartig dargelegt. So findet sich auf dem linken Bildrand eine charakteristisch Chagallsche grüne Kuh - für den Maler Symbol einer anti-realistischen und anti-akademischen, dafür aber subjektiv-poetischen Kunst. Bereits 1918 hatten Chagalls Studenten seine grüne Kuh anlässlich der Oktoberfeiern überall in Witebsk aufgehängt. Ganz zum Unverständnis der kommunistischen Führer, die meinten: "Warum ist diese Kuh grün? Was hat das mit Marx und Lenin zu tun?"

Chagalls legendärer Geiger

Nicht minder bedeutsam als die Einführung sind die Personifikationen der vier Künste Musik, Literatur, Tanz und Theater, die ursprünglich zwischen den Fenstern des Theaterraumes zu sehen waren. Darunter auch der legendäre Geigenspieler, eine Variation früherer Geiger-Darstellungen. Ein Bild, in dem sich alles, was Chagall auszeichnet, verbindet. Vor der Silhouette einer russischen Provinzstadt ein überdimensionaler Musiker, der einen Gebetsschal aus geometrischen Formen trägt, die sich in der asymmetrisch karierten Hose fortsetzen. Ähnlich wie den Kubisten ging es Chagall hier um die Zerlegung der Gegenstände in geometrische Formen. Kein Widerspruch für Chagall zu seiner jüdischen Herkunft. Er fand eine Verankerung der geometrischen Formen in der jüdischen Tradition - und konnte so formale Errungenschaften der Moderne mit Traditionen seiner Religion problemlos verbinden.

CHAGALL

Meisterwerke 1908-1922

BA-CA Kunstforum

Freyung 8, 1010 Wien

www.ba-ca-kunstforum.at

Bis 18. 2. 2007 Di-So 10-19 Uhr, Fr 10-21 Uhr

Katalog hg. vom BA-CA-Kunstforum, Wien, 200 Seiten, Euro 30,-

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