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Im Geflechte der Striche

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Die Galerie Würthle hat hintereinander zwei sehr schöne Ausstellungen französischer Maler und Graphiker zustandegebracht: Zunächst eine kleine Schau von Lithos und Gouaches von Marc Chagall und dann eine große Ausstellung von Werken von Leger, Gromaire, Kupka und Villon, die Louis Carre eigens für Wien zusammengestellt hat und die eine Reihe kostbarer Originale erstmalig nach Oesterreich brachte. Hier. fünf kleine Steckbriefe.

Marc Chagall, geboren 18 87 in Witebsk, seit 1910 in Paris, seit 1949 in Vence. Marc Chagall sieht Paris: wie zart, wie beseelt wird da alles: Tour d'Eiffel und Notre Dame und Triumphbogen! Jede seiner Pariser Lithographien gibt uns eine Stadt mit unendlichem Schicksal und doch erscheint jedes einzelne dieser Schicksale ins Schwerelose, ins Schwebende verwandelt, gelöst und erlöst. Fast ist es, als ob sich uns hier das Geheimnis einer Stadt offenbarte, die Menschen aus aller Welt anzieht und zu sich zu kommen verlockt, damit sie ihr bißchen Schicksal unter den Triumphbogen stellen können (der bei Chagall aufwächst wie ein Baum oder wie ein Zeitalter), oder es in den grauen Wassern der Seine spiegeln oder hinaustragen in den Bois de Bou-logne oder es für immer bereichern um die Bäume der Champs-Elysees oder die Springbrunnen des Jardin du Luxembourg ... Von einzigartiger Schönheit ist das Blatt „Concorde“, das aus dem größten Platz der Welt ein Fest macht und eine Wiese von Sträuchern, Frühling, Düften, Farben, bewohnbar auf einmal für Menschen (nicht bloß für Regen und Sonne), wie es ein Platz für uns sonst nur in der Erinnerung sein kann. Chagall sieht Paris. Uns lehrt er sehen.

Marcel Gromaire, geboren 1892 in Noyelles sur-Sambre in Flandern. Von ihm werden Zeichnungen, Aquarell- und Oelbilder gezeigt. Seine Stärke liegt im zeichnerischen Oeuvre und in den durchaquarellierten Tuschzeichnungen (denn auch seine Aquarelle haben graphische Strenge). Aus einem dichten, anscheinend unentwirrbaren Geflecht zarter Striche heben sich klar und einfach die menschlichen Körper ab, jeder ein Fest des Lichtes und des Lebens, gefeiert in einer bedrängenden Vielfalt de umgebenden Chaos, ein Fest des Menschwerdens in einer Kneipe in einer Großstadt, die sehr viel Industrie und alte Mietskasernen hat. Seine Akte haben ein bloß physisches Dasein, aber es nähert sich schon jenem Punkt, von dem an Schicksal entsteht. So gibt uns Gromaire volle, energiegeladene Formen von harter Geometrie.

Fernand Leger, geboren 1881 in Argentan in der Normandie. Von ihm sind Oelbilder und Zeichnungen ausgestellt. Nach dem Tode von Henri Matisse ist Leger wohl der sparsamste Zeichner und Maler der Gegenwart, einfach und klar in Aussage und Mitteln; was bei Matisse aber zart und andeutend war, wird hier wuchtig und bestimmt ausgesprochen und unterstrichen. Leger ist der einzige Kubist, der dies im Grunde immer geblieben ist; seine Bilder sind nur klarer, fester, statischer geworden. Ihr eigentlicher Inhalt ist die Schönheit urtümlicher, unverfeinerter Kraft im Menschen; “die Frage, ob der Mensch auch ein geistiges Wesen ist, wird von Leger keineswegs verneint. Er stellt sie bloß nicht zur Diskussion; seine Aufgabe ist eine andere. So entstehen bei Leger Bilder, die nicht reich an Nuancen sind, aber goldhaltig durch die ausgewogene Anordnung und Zueinanderordnung bestimmter, weitgehend abstrahierter Formen. Seine Farbgebung ist besonders sparsam und rein abstrakt, also unabhängig von den Formen.

Frank K u p k a, geboren 1871 in Opocno, Tschechoslowakei, seit 1892 in Paris. Von ihm sind fünf Oelgemälde aus den Jahren 1919 bis 1948 ausgestellt. Ursprünglich neoimpressionistischer Maler, später rein abstrakt. Einige seiner Gemälde gehen den Weg, den Mondrian ging, mit gleicher Konsequenz; andere sind zwar abstrakt, aber Arabeske; haben also ihr Leben nicht aus sich, sondern in bezug auf etwas, das eine reale Existenz haben muß . (und an das Kupka vielleicht nicht denkt). Dieser Weg zur Abstraktion (ob er nun konsequent begangen wird oder nicht) ist der Ausfahrt der Puritaner auf der Mayflower vergleichbar, die eine neue Welt suchten und, ehe sie diese noch gesehen hatten, darangingen, sich eine Verfassung zu geben; eine Verfassung für einen noch nicht existenten Staat also. Während der andere Weg der ist, nicht mit den Gesetzen anzufangen, sondern mit der Rodungsarbeit, dem Grenzkampf, dem Siedlungswerk, und der Wildnis Schritt für Schritt Neuland abzugewinnen.

Jacques Villon, geboren 1875 in Damville in der Normandie. Von ihm werden graphische Arbeiten und fünf Oelgemälde gezeigt, denen allerdings nur — ähnlich wie bei Gromaire — geringere Bedeutung zukommt, wenn ihre hellen und zarten Farben auch einen eigenartigen Reiz haben; sie sind weit fortgeschritten auf dem Weg zur Abstraktion, sehen sich aber gleichsam noch einmal um, so daß alles noch einmal Gestalt ist, ehe es endgültig zur bloßen Form wird. Seine Graphiken haben die Regelmäßigkeit eines gewebten Teppichs oder eines Rasters; dort, wo die Fäden unterbrochen sind, entsteht aus den Unregelmäßigkeiten das Bild, und aus dem Gewebe tritt ein Mensch oder eine Stadt. Seine graphischen Arbeiten sind Ausdruck einer sehr komplizierten, minuziösen, empfindlichen Ordnung der Striche, die aus der Uebereinanderlagerung verschiedener Schichten, verschiedener Raster wächst. An den Stellen, wo sie sich überschneiden, kommt es zuweilen zu Unregelmäßigkeiten; hier ist der Platz freigeblieben für das Bild, das dadurch immer etwas Flächenhaftes hat. Aus der geflochtenen Fläche der Striche setzt sich hier eine neue Ordnung zusammen, die wir noch nicht ganz überschauen können.

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