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Die Welt Chagalls

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NICHT NUR DIE BESCHREIBUNG des großen Tempels zu Jerusalem und seiner Bundeslade in der Bibel, auch in jüngster Zeit die Funde von Dura Europos verweisen darauf, daß sehr wohl von einer frühen jüdischen bildnerischen Kunst gesprochen werden muß. Frühe europäische Zeugnisse von naivem Volkskunstcharakter finden sich dafür, vor allem in dem grandiosen und erschütternden jüdischen Museum zu Prag, das hinter der Alt-Neu-Synagoge liegt, deren Innenraum noch vom Blut der Pogromopfer des Mittelalters geschwärzt ist, und auf dem dazugehörigen Judenfriedhof, dessen Grabsteine manchmal in lapidarer Form rebusartige Bildersprache zeigen. Ihre „surrealen“ Effekte, die Heterogenes verbinden, ähneln schon der märchenhaften Bildwelt Chagalls. Eine andere Wurzel seiner Art der Darstellung mag in den seit dem 16.117. Jahrhundert entstandenen russischen Farbholzschniiten liegen, den erbaulichen, belehrenden und informativen Volksbilderbogen, die größte Verbreitung hatten. Sie zeigen Szenen aus dem dörflichen Leben, die mit einem naiven Geschick für dekorative Wirkungen behandelt werden, Sprichwörter und Fabeln: Während die faule Hausfrau am Spinnrocken schläft, bearbeiten auf den Hinterbeinen gehende Schweine den Flachs. In der derben, direkten Darstel-lungsweise gewinnt alles seltsam phantastischen Charakter: Troikas scheinen durch die Luft zu jagen, bärtige Sackträger über dem Boden zu schweben. Nach einem Worte Berensons wird hier künstlerisches Unvermögen zum Stil.

DIESE ELEMENTE SCHEINT der dreiundzwanzigjährige Chagall als geistiges Gepäck mitgenommen zu haben, als er nach dem Studium in St. Petersburg seine Heimat 1910 verließ, um nach Paris zu gehen. Dort war die Überwindung des dreidimensionalen Tiefenraumes in der Malerei bereits seit ger'au-mer Zeit im Gange, und Picassos Kubismus hatte schon die ersten Schritte auf eine neue Anschauung des Raumes hin getan. Die Malerei der jungen Generation verwendete vor allem eine aperspektivische, auf die Fläche bezogene Raunidarstellung, in die sich nun die von Chagall mitgebrachten Formelemente bestens einfügten. Auch sie entsprachen der großen Welle der Entdeckung der Kunst der „Primitiven“, der zeitgenössischen und vergangenen, weil sie emotionelle Elemente einfach und direkt zur Anschauung bringen konnten. Der Einfluß des Kubismus, die strengen plastischen Formulierungen Picassos und Juan Gris mußten daher auf ihn nur peripher wirken. Er deutet sich lediglich in einer harten Verkantung der Formen an, die er bald abstreifen sollte, denn sein primitiver Bildraum stand der lateinischen Klarheit des erweiterten Wdhrnehmungs- und Erfah. rungsraumes der Kubisten diametral entgegen, war poetisch-verspielt und subjektiv. Der Zwang zu fabulieren, sich bildlich auszusprechen, war stärker als der objektiv gerichtete bildnerische Drang, der ein auf sich selbst bezogenes Ganzes meint. Es ging ihm nie darum, die Welt nach einer totaleren Ordnung neu zu gestalten, wie dem Kubismus — er gestaltete seine eigene Welt der Fabeln, der Legenden und Märchen, in der sich die naiven Elemente der Tradition zu seiner Vorliebe für die Farben orientalischer Basare, das Bunte und Glitzernde zu der melancholischen Traurigkeit und dem Tiefsinn des jüdischen Humors und der jüdischen Legenden gesellten.

IN SEINER FRÜHEN ZEIT erreichte er in der flächigen Abstraktion, in reduzierten, lyrischen Farben eine Dichte des Ausdrucks, die die primitive Herkunft der Form vergessen läßt, ohne daß er dabei die edle Einfachheit, Größe und Strenge Henri Rousseaus erreichte. Die Welt, die er baute und in der er heute noch — wie in einem selbstgezimmerten Haus — lebt, kann keine Klärung formaler Verhältnisse vertragen. Ihr schwebender, märchenhafter Charakter, ihr bildliches Reden, ihr Gesetz der Verbindung des Heterogenen in emotionalen Größenordnungen, diese Welt der persönlichen Symbole mit ihren schwebenden Juden, trächtigen Kühen, feurigen Hähnen, Blumensträußen und Liebespaaren, Uhren, Pferden und schwarzen Sonnen steht einer Ordnung nach räumlichen Bedingungen entgegen, weil sie zutiefst poetisch, ja literarisch ist. Ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, daß sich Chagall mit einer Authentizität ausspricht, die jüdischen Geist und jüdisches Wesen vereint, die beide — entgegen herkömmlicher Annahme — im Gegensatz oder Zwiespalt zu Materie und Realität stehen.

CHAGALLS HEIMAT WiTEBSK und seine Familie brachten ihn mit dem Chassidismus in Verbindung, der sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus den mystischen Spekulationen der Kabbala entwickelte und in volkstümlicher Frömmigkeit dem Laien die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott im Gebet geben wollte. Chagalls Familie, die sehr arm war, gehörte einer chassi-dischen Gemeinde an, und Witebsk besaß damals einen der be-mhmten Wunderrabbis. Der Künstler selbst leugnet allerdings, daß seine Malerei im wesentlichen ein mystisches oder auch nur religiöses Glaubensbekenntnis darstelle, gibt aber zu, daß Mystik und Religion in seiner Kindheit eine große Rolle spielten. Wie dem auch sei, was den Fünfundsiebzigjährigen trägt, ist die Welt seiner Herkunft, der poetische Zauber einer Kindheit, die es vermag, sich noch immer in bunter Schönheit und Sehnsucht zu verklären.

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