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DasLeben in Träumen
„In der Kunst“, sagt Georges Braque, „zählt nur eines, das, was man nicht erklären kann.“ Einer „Erklärung", exakten Deutung oder Entschlüsselung entziehen sich die Bilder Marc Chagalls letztlich alle — auch wenn man sich oft genug darum bemüht hat. „In meinen Kompositionen gibt es weder Phantastisches noch Symbolisches“, sagt der Maler selbst. Seine immer wiederkehrenden poetischen Requisiten, die den Bildraum wohl ausgewogen und aufeinander abgestimmt füllen: die Liebenden, die Braut, der Geiger, der Mond, der Fisch und die Uhr sind für Chagall — freilich nicht aus dein Ungefähr hergeholte — Kompositionselemente, mit denen er frei umgeht und durch die eine im imaginären Raum angesiedelte Traumwelt entsteht, die mit der inneren des Malers identisch ist. Die Grundidee seiner Bilder besteht im Verwirklichen von Kindheitserinnerungen, die in seinen auf russischjüdischem Boden behausten Bildern dominieren, von Träumen und Wünschen, die, von der Hand des Malers beseelt, auf der Leinwand zu leben und zu agieren beginnen, was der Grund dafür ist, daß man sich an den Bildern dieses mit Paul Klee poetischsten Malers unseres Jahrhunderts nicht sattsehen kann.
Nach Hamburg zeigte München die bisher eindrucksvollste und geschlossenste Schau seiner Bilder. Nahezu alle Hauptwerke waren neben weniger bekannten, vor allem aus der früheren Zeit stammenden Gemälden zu sehen. Man erhielt hier einen Ueberblick, eine Möglichkeit, sich mit Chagalls Welt auseinanderzusetzen und sich mit seiner Malerei vertraut zu machen, wie sie so rasch nicht wieder gegeben sein wird, da fast 70 private Leih geber und 17 Museen am Zustandekommen dieser Ausstellung beteiligt waren. Diese Komprimierung erlaubte so auch verschiedene und höchst aufschlußreiche Gegenüberstellungen und das Erkennen der wesentlichen Elemente, auf denen Chagalls Kunst basiert. So zum Beispiel, daß sich der Figurenreichtum vieler Bilder oft bis in den Hintergrund fortsetzt- (was wirklich nur vor den Originalen erkennbar ist), um mit diesem schließlich zu verschmelzen, wodurch sich das Bildgeschehen ins Weite, Unendliche ausdehnt. Parallel hierzu bewegt sich der Aufbau mancher Bilder in Form einer Spirale, die sich um eine Achse oder um einen festen Punkt dreht; bei anderen ist es ein fixierter Fluchtpunkt, der die Bildbewegung aufnimmt. Hier macht sich die Malerei von irdisch-logischen Gesetzen völlig frei, um zu neuen Wirklichkeiten und zum Sichtbarmachen neuer Erlebensmöglichkeiten vorzustoßen. Es entsteht eine frohe und heitere Welt, der vor allem auch durch das bei Chagall so sublimierte und wichtige Element der Farbe jener Hauch von Poesie verliehen wird, die den. aufnahmebereiten Betrachter beglückt.
Neben den Gemälden waren auch vorzügliche Beispiele der Graphik Chagalls, seiner unerreicht hoch stehenden Kunst der Illustration und herrliche Keramiken zu sehen. Die Arbeit an den berühmten Bibelillustrationen wirkte sich übrigens auch auf die Malerei aus: einige der schönsten unter den ausgestellten Bildern sind großartige Ableger seiner Beschäftigung mit diesem Thema: eines der beeindruckendsten Werke war zum Beispiel der 1950/51 entstandene „König David“.
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