Aus Spiel wurde Ernst

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Wie aus kindlichem Spiel tödlicher Ernst werden kann, erzählt Michael Frayn in seinem eben auf Deutsch erschienenen Roman "Das Spionagespiel".

Die dritte Juniwoche, und da ist er wieder, dieser fast peinlich vertraute süßliche Hauch, der sich alljährlich um diese Zeit bemerkbar macht." In diesem Moment ist der Ich-Erzähler wieder ein Kind. Der Geruch erinnert ihn jeden Sommer an das Land der Kindheit, an die Straßen, in denen einst aus einem harmlosen Spiel heraus das Unglück seinen Lauf nahm, an Personen, die er auf dem Gewissen hat.

Der Ich-Erzähler rafft sich eines Tages auf, um fast ein halbes Jahrhundert nach gewissen Ereignissen diese Straßen seiner Kindheit aufzusuchen, streunt nachdenklich an bekannten und unbekannten Häusern vorbei. Alles ist wie früher, stellt er fest, und alles hat sich verändert.

Michael Frayn versteht es, aus der Sicht des Erwachsenen mit dem nötigen Abstand in die Perspektive des Kindes zu wechseln, schwankt zwischen Ich und Er hin und her, lässt das erwachsene Ich nach dem jungen Ich suchen. Und mit einem Mal sieht er ihn: Stephen, den Ich-Erzähler als Kind, wie er zu Keith geht, seinem Spielkameraden, den er für seinen besten Freund hält. Und mit ihn ist der Leser mit dabei, als die Geschichte anfängt: "An dem Tag, als Keith, mein bester Freund, diese sechs einfachen Wörter aussprach, die unsere Welt von Grund auf veränderten."

Sechs einfache Wörter, die in Zeiten des Krieges alles andere als einen passenden Ausgangspunkt für ein Kinderspiel darstellen: "Meine Mutter ist eine deutsche Spionin." Leicht dahingesagt, werden sie aufgrund der kindlichen Nachforschungen der beiden Buben bald zur Wirklichkeit. Was als verdächtig benannt wird, wird tatsächlich verdächtig: Was bedeuten die mysteriösen Eintragungen im Notizbuch von Keiths Mutter? Und wohin verschwindet sie, wenn sie angeblich einkaufen geht?

Je mehr die Kinder nachforschen, desto mehr scheint sich die These zu bestätigen: die Mutter ist eine Spionin. Ohne es zu begreifen, sind die beiden Buben dabei ein Geheimnis zu lüften. Laden sie durch ihr Spiel, das nicht ohne Folgen bleibt, Schuld auf sich.

Meisterhaft erzählt der Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer Michael Frayn die Verstrickung des jungen Stephen, der Keith und seiner Familie in demütiger Bewunderung verfallen ist. Selbst nachdem ihn Keiths Mutter eindringlich darum gebeten hat, ihr nicht nachzuforschen, lässt er nicht locker. Will er sich doch vor Keith bewähren. Mit angehaltenem Atem folgen die Leser dem Jungen bei seinen auch nächtlichen Spionagestreifzügen in diesem kleinen Londoner Vorort, an dem Versorgungs- und Militärlastzüge vorbeibrausen, an dem in den verdunkelten Neumondnächten absolute Finsternis herrscht. Geheimnisse ans Licht zu bringen gibt es genug, die Dinge liegen aber völlig anders, als es die Fantasie der Jungen zur Wirklichkeit erklärt hat. Nichtsdestotrotz haben die kindlichen Nachforschungen für einige Menschen fatale Folgen.

Wenn sich auch der erwachsene Ich-Erzähler noch nicht recht sicher ist, ob er alles von damals verstanden hat: der Leser erhält am Ende so manche Erklärung. Dabei wäre vermutlich die Ironie der Geschichte, die auch Stephens Eltern - die dieser als Kind für völlig uninteressant gehalten hat - am Ende ein großes Geheimnis zuerkennt, für diese Geschichte nicht unbedingt nötig gewesen.

Dennoch lohnt sich ein Besuch in Frayns unaufgeregt und atmosphärisch dicht beschriebenem Vorort, das Kosten seiner Erzählkunst, die reichlich Spannung erzeugt. Für diesen beklemmenden Roman über ein besonders schmerzliches Erwachsenwerden, den Verlust von Kindheit und kindlicher Unschuld vor der Kulisse des Zweiten Weltkrieges und über die Wirkungskraft von Verdächtigungen wurde Michael Frayn mit dem Whitbread Novel Award ausgezeichnet.

Das Spionagespiel

Roman von Michael Frayn

Aus d. Engl. v. Matthias Fienbork

Hanser, München 2004

222 Seiten, geb., e 20,50

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