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Joseph Mohr

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Er war scheinbar bloß ein Dichter für den Hausgebrauch, einer jener poetischen Kaplane, die dem Volk, mit dem sie leben, festliche, heitere Verse schenken und manchmal einem Freunde einen besinnlichen Spruch. Die Schiffsleute in Oberndorf und das junge Volk in all den Pfarren, die da auf seinem Lebensweg standen, liebten ihn deshalb. Dichtende Kapläne gab und gibt es zu allen Zeiten. Dem Kaplan Joseph Mohr aber gelang dann am Heiligen Abend des Jahres 1818 ein Lied, das seither nicht mehr verstummt ist und in allen Sprachen der Welt so sehr der gesamten Christenheit gehört, daß kaum einer mehr nach dem Dichter fragt. Auch dieses Lied wurde für den Hausgebrauch geschrieben. Die Orgel war gebrochen, die Christmette in Oberndorf sollte ohne Lieder sein, im Nachbarort saß ein kundiger Lehrer, Tonsetzer und Freund. Die Zeit wog nach Stunden. So wurde ein ganz schlichtes Lied im Volkston gewagt und zur Gitarre bei der Mette gesungen. Das war seltsam, aber wer berechnet die Kraft eines kleinen Liedes, wer kann sie abschätzen? Die beiden Freunde dachten gewiß nicht an eine „Welturaufführung”, sie waren nur froh, daß sie für die Mette eine stimmungsvolle Einlage gefunden hatten. Daß an diesem kleinen Lied seither jede Berechnung und jede Kritik zuschanden wurden, daß sein Erfolg über die Erde hin jeder Erklärung spottet, gehört zu all den schönen Unbegreiflichkeiten, die so oft um ein Lied sind, nur um ein kleines Lied.

Dennoch konnte diese wundersame Kraft von diesem Liede nur ausgehen, weil ein wunderbarer Mensch es geschrieben hatte. Seltsam, wie wenig man von ihm gemeinhin weiß. Eine ganze Bibliothek wurde um die Entstehung des „Stille Nacht” seither geschrieben und gedichtet, Anlässe wurden erfunden, süße, rührende Begebenheiten mit Lawinen und kleinen sterbenden Kindern und was den Kitschbesessenen eben einfällt. Daß das größere Wunder in der völlig unromantischen Entstehung des Liedes liegt und daß es dabei dennoch irgendwie Ausdruck eines innerlich großen, aber fast gejagten Lebens war, das nahm man kaum zur

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