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Doktrin umdrehen2.

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Michail Gorbatschow ist bemüht, die von ihm geführte Sowjetunion — in militärischer und industrieller Hinsicht eine Großmacht, in allen übrigen Belangen, vor allem der Lebensqualität aber nur ein mittleres Entwicklungsland — aus der Rückständigkeit herauszuführen und sie dem Westen, den noch Nikita Chruschtschow überflügeln wollte, wenigstens anzunähern. Er ist bestrebt, die Ungleichzeitig-keit, die das nachhinkende Rußland von der modernen Wirklichkeit trennt, zu beseitigen und durch eine vollwertige Partizipation an den Segnungen der modernen Zivilisation zu ersetzen.

Er ist in Verfolgung dieses Bestrebens allerdings mit der Realität, daß nicht alle kommunistischen Länder mit diesem Reformeifer Schritt halten und gleichziehen, konfrontiert. Besonders Rumänien, aber auch die DDR erlauben sich nach wie vor einen der Reformlinie Gorbatschows zuwiderlaufenden Kurs.

Kann Gorbatschow diese reaktionäre Linie gewähren lassen, ohne sein Reformwerk und die Einheit der kommunistischen Welt in Frage zu stellen? Müßte er nicht von der Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der einzelnen kommunistischen Länder Gebrauch machen und den Spieß gegen jene umdrehen, die bisher Moskau kopierten?

Ist es nicht auch im Sinne eines proletarischen Internationalismus gelegen, der sich nicht an Staatsgrenzen gebunden fühlt, sondern die gemeinsame Sache des Weltproletariats wahrnimmt, gegen Zustände einzuschreiten, die den Kommunismus insgesamt belasten und ad absurdum führen? Oder ist mit der Absage an die Ära Breschnew auch der Verzicht auf die Anwendung der in dieser Ära formulierten und praktizierten Doktrin, selbst wenn sie einer guten Sache diente, verbunden?

Kann sich Gorbatschow, selbst wenn er sich zur Anwendung der Breschnew-Doktrin mit umgekehrten Vorzeichen entschlösse, eine solche offensive Politik gegenüber den Satelliten aber überhaupt leisten, da er doch im Inneren der Sowjetunion mit Nationalitätenkonflikten konfrontiert ist, die seinen Handlungsspielraum einengen?

Alle diese Fragen, die auf der Hand liegen, aber nur von der vor uns liegenden historischen Entwicklung beantwortet werden können, zeigen jedenfalls, daß die Krise der kommunistischen Weltbewegung mit den Vorstößen Gorbatschows keineswegs abgeschlossen ist, sondern eigentlich erst an die Oberfläche getreten ist und begonnen hat.

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