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Nicht nur ein Praditband

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Wer fürchtet sich nicht vor der Lelitüre eines Prachtbandes? Darin blättern und die schönen Bilder anscliauen — gern. Aber ihn Seite für Seite lesen, wie es sich für einen gewissenhaften Rezensenten ziemt? Das fällt oft schwer und wird daher oft unterlassen. Es steht, so weiß der aus Er-falirung skeptisch gewordene Konsument, eh nur Offiziöses, Wohlmeinendes, Allbekanntes und wenig Interessantes drin. Anders in dem Buch von Kurt Dieman, der einer der merkwürdigsten Musikscliriftsteller ist, die uns wälirend der letzten zelin bis zwanzig Jahre begegnet sind.

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Wer fürchtet sich nicht vor der Lelitüre eines Prachtbandes? Darin blättern und die schönen Bilder anscliauen — gern. Aber ihn Seite für Seite lesen, wie es sich für einen gewissenhaften Rezensenten ziemt? Das fällt oft schwer und wird daher oft unterlassen. Es steht, so weiß der aus Er-falirung skeptisch gewordene Konsument, eh nur Offiziöses, Wohlmeinendes, Allbekanntes und wenig Interessantes drin. Anders in dem Buch von Kurt Dieman, der einer der merkwürdigsten Musikscliriftsteller ist, die uns wälirend der letzten zelin bis zwanzig Jahre begegnet sind.

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Im Hauptberuf ist er nämlich weder Musikologe noch Ißstoriker. Jahrgang 1923, Wiener von Geburt und aus Überzeugung, einer alten Offiziere- und Lehrerfamilie entstammend, hat er an der Wiener Musik-akademie und am Salzburger Mozarteum Gesang studiert, ist seit 1962 Femsehfllmautor und unterrichtet seit 1969 am Konservatorium det Stadt Wien Interpretation in den auddoviisuellen Medien. Und daneben hat er Stoff gesammelt, hat ein kaum übereehbares Material zur Wiener Musikgeschic’’» genauer: zur Entwicklung der Musikstadt Wien, zusammengetragen, das er, den 23 Wiener Gemeindebezirken entsprechend, in 23 Kapitel gliedert. Eine musikalische Topographie Wiens zu schreiben: das war verlok-kend. Die Gefahren liegen auf der Hand. Aber Dieman bekennt sich zur feuilletonistischen Form, die es ihm gestattet, den verschiedensten Assoziationen zu folgen. Und eine vollständige Musdkgeschichte Wiens und des Musiklebens der Metropole hat er ja niemandem versprochen. „Musdk in Wien” heißt das Buch und kündet in seinem Untertitel ein reichhaltiges Illustrationsmaterial an: 44 Farbbilder des Meisterphotographen Erich Lessdng, 175 Schwarzweißbilder und 53 Illustrationen im Text.

Dieser Text ist auf’s entschiedenste und erfrischendste durch die Persönlichkeit des Autors geprägt, der eine merkwürdige schwarzgelbrote Mischung daretellt, ein Altösterreicher also, dessen Herz links schlägt. Vor allem aber ist Dieman ein leidenschaftlicher Antinazd, der eine hierzulande vmgewohnt offene Sprache führt. Es hagelt Aggressionen, Tabus werden am laufenden Band verletzt. Und wer ihm da ins Schußfeld gerät, der bekommt etwas ab. So zum Beispiel Richard Wagner, der Meistersinger von Penzing. Das ist nichts für Wagnerianer, und auch der gutwillig-neutrale Leser wird finden, daß Dieman zuweilen übers Ziel schießt. Aber auch die andere Seite muß gelegentlich etwas einstecken, etwa wenn Dieman an die fortschrittliche Gesinnung der Wiener Arbeiterbewegung in den zwanziger Jahren erinnert, an die von Anton von Webern geleiteten Konzerte zum Beispiel, imd danach feststellt, daß der als Veranstalter groß in Erscheinung tretende mächtige Gewerkschaftsbund nach 1945 wenig Lust zeigte, auf jener vorgezeichneten progressiven Linie wei-terzumarschieren, ,4nfolge des fatalen Hangs der Wohlstandsgesellschaft zum Ringstraßenkonservativismus und zum Epigonentum der Gründerzeit”.

Daß Wiens Musdkleben trotzdem, und zwar unmittelbar nach dem Krieg, wieder in Bewegung kam, daß hier in den ersten heroischen Jahren nach 1945 der Nachholbedarf befriedigt werden konnte und die zeitgenössische Musdk eine Pflege fand, wie kaum irgendwo in der Welt — das verdanken wir der Initiative eines Mannes, den Dieman vergessen hat, nämlich dem seinerzeitigen Generalsekretär der Konzerthausgesellschaft, Dr. Egon See-fehlner, derzeit designierter Generalintendant der Deutschen Oper Berlin. Auch die Rolle und Bedeutung der Gesellschaft der Musikfreunde mit ihrem vorsichtiger agierenden, aber um so erfolgreicheren Generalsekretär Rudolf Gamsjäger (wie sein ehemaliger Kollege, gleichfalls designierter Opemchef) wird nicht genügend gewürdigt. Und damit sind wir bei den Lücken und Fehlern. Während der letzten Wochen wurde von der Fachkritik, neben „politischen” Vorbehalten gegen Diemans Buch, eine Liste von Errata aufgestellt. Bei einer solchen Materialfülle, die Dieman vor dem Leser ausbreitet, sind Fehler und Lapsus jeder Art fasit unvermeiiddich. Wir erinnern zum Vergleich nur daran, daß einem als Ordinarius tätigen Fachgelehrten in einer Monographie, wo alles schön am Schnürchen dargestellt ist, vom größten Wiener Musdkologen, O. E. Deutsch, nicht weniger als 120 Irrtümer und Fehler nachgewiesen wurden. Damit mögen Herr Dieman und seine Kritiker sdch trösten.

MUSIK IN WIEN. Von Kurt Dieman. Fritz-Molden-Verlag, Wien-München-Zürich. 232 Seiten, S 545.—.

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