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Proteine werden zu „Gedächtnismolekülen”

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Das Lernen ist kein einheitlicher und homogener Prozeß, sondern ein kompliziertes, in zahlreichen aufeinanderfolgenden Phasen ablaufendes Geschehen. Bisher gibt es auch kein geschlossenes, neuropsychologisches Modell des Lemefts. Aber es existiert immerhin schön eine Reihe ‘• von Grundbausteinen, die durch Forschungen in aller Welt weiter vermehrt werden. In Wien hat sich vor allem Univ.-Prof. Dr. Giselher Guttmann vom Psychologischen Institut der Universität mit Forschungsstrategien beschäftigt, die sich mit stofflichen Veränderungen im Zentralnervensystem beschäftigen. Ein Teil dieser Arbeiten war der Überprüfung der Frage gewidmet, ob es so etwas wie „Gedächtnis-Moleküle” gibt.

„Das Auftreten von qualitativ neuartigen Ribonukleinsäuren im Zuge eines Lernprozesses in den an diesem Prozeß beteiligten Nervenzellen wird heute allgemein akzeptiert”, berichtet Prof. Guttmann. Umstritten war aber bisher die Möglichkeit, Substanzen aus dem Gehirn eines trainierten Lebewesens zu entnehmen und sie einem untrainierten Lebewesen so zu verabreichen, daß beim Empfänger eine „Lernersparnis” auftritt. „Vor allem”, betont der Wissenschafter, „fehlte eine plausible Erklärung dafür, ob und wie etwa in die Bauchhöhle injiziertes Ge- himhomogenat (zerkleinerte Gehim- masse) in einem Empfängertier überhaupt an den entscheidenden Orten eingebaut wird, um dort wirksam werden zu können.”

Hier konnte in Zusammenarbeit mit dem Physiologischen Institut der Veterinärmedizinischen Universität in Wien (Vorstand Univ.-Prof. Dr. Alfred Kment) einiges geklärt werden. So war es erstmals möglich, gesichert nachzuweisen, daß Organhomogenate von Empfängertieren bevorzugt in den „passenden Organen” - etwa Leber oder Herz - aufgenommen werden. Radioaktiv markierte Homogenate machten diese Aussage im Tierversuch möglich.

Die Hypothese, daß makromolekulare Strukturen von einem Empfängerorganismus genau dort eingebaut werden, wo sie strukturell „passen”, wäre - so überlegten die Wissenschafter- auch für eine einfaehe Erklärung eines biochemischen Lerntransfers entscheidend. Erste Hinweise für die Richtigkeit dieser Vermutung lieferte eine weitere Arbeit, die am Psychologischen Institut der Wiener Universität durchgefuhrt wurde. Dabei trainierte man Ratten in einem Labyrinth bis zum Erreichen eines bestimmten Leistungskriteriums. Dann wurden durch Injektion die Proteine (Eiweißkörper) und die Ribonukleinsäuren (in den Zellkernen vorkommende Verbindungen von Phosphorsäure, Nukleinbasen und Kohlehydrat) im Gehirn der Ratten mittels radioaktiven Isotopen markiert und schließlich die Gehirnmasse der getöteten Tiere homogenisiert. Die radioaktiv markierten Ribonukleinsäuren und Proteine wurden den Empfänger-Ratten in verschiedenen Zeitabständen vor dem Beginn ihres Trainingsprogrammes im gleichen Labyrinth unter die Haut gespritzt.

„Dieses Experiment brachte sowohl auf der Verhaltensebene als auch biochemisch ein eindeutiges und überraschendes Ergebnis”, stellte Prof. Guttmann fest. Denn die Empfänger, denen Proteine trainierter Tiere injiziert wurden, zeigten gegenüber Kontrolltieren eine ganz deutlich nachweisbare Verbesserung der Lern- leistung. Die Verabreichung von Nukleinsäuren hatte dagegen keine nachweisbare Veränderung der Lern- leistung zur Folge, sondern lediglich einen unspezifischen Aktivierungseffekt, der sich vor allem auf den Bewegungsdrang der Tiere auswirkte.

Eine weitere Untersuchung der Gehirne der Empfängertiere zeigte schließlich, daß Proteine von trainierten Ratten in ganz deutlich größeren Mengen im Hippocampus, einem Teü des Großhirnes, der Versuchstiere eingebaut wurden, während die Ribonukleinsäuren - gleichgültig ob sie von trainierten oder untrainierten Tieren stammten - in Hippocampus und Resthirn in gleicher Menge inkorporiert wurden.

„Diese Daten stehen in ausgezeichnetem Einklang mit einer Reihe von gesicherten neurophysiologischen Erkenntnissen”, erklärt dazu Prof. Guttmann. Darüber hinaus aber liefern sie erste Hinweise dafür, daß es tatsächlich so etwas wie „Gedächtnis-Moleküle” gibt.

„Denn”, so betont der Wfcsenschaf- ter, „der Einbau von quasi’.trainierten Proteinen erfolgt nicht nur mit einer ganz deutlichen Bevorzugung zum passenden Organ; selbst innerhalb eines Organes läßt sich, wie unsere Arbeiten zum ersten Mal gezeigt haben, ein Einlagerungsmaximum in ganz bestimmten Teilstrukturen - im konkreten Fall im Hippocampus - erkennen.”

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