"Gegeben und genausoviel bekommen“

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Natur, Heilen und Gleichgewicht sind Andrea Nießners Lebensthemen. Sie haben auch den freiwilligen Auslandseinsatz in Ecuador geprägt, von dem die Physiotherapeutin gerade eben zurückgekommen ist. Eine Geschichte über interkulturelle Begegnung auf Augenhöhe.

Andrea Nießner muss schwer atmen, als sie nach einer halben Weltreise in Salinas de Guaranda, einem kleinen Dorf im Südwesten der ecuadorianischen Hauptstadt Quito, landet. "Auf 3500 Höhenmetern ist die Luft schon ziemlich dünn“, erinnert sich die 57-jährige Physiotherapeutin. Sie wird eine Zeit lang brauchen, um sich zu akklimatisieren. Doch spätestens, als ihr Padre Antonio seinen Garten zeigt, keimen in ihr heimatliche Gefühle. "Dort im Garten habe ich mir gedacht: Es gibt keinen Platz auf der Welt, wo man nicht in die Erde greifen kann.“

Natur, Heilen und Gleichgewicht: Wie ein roter Faden ziehen sich diese Themen durch alles, was Andrea Nießner bewegt. Die Natur ist für sie Kraftquelle, Heilen ist ihr Beruf - und um Gleichgewicht war sie immer bemüht. Auch im Rahmen ihres Auslands-aufenthaltes in Ecuador: Drei Monate lang hat sie in jener Kooperative Salesiana mitgearbeitet, die von Padre Antonio Polo, einem italienischen Priester, vor 40 Jahren gegründet worden ist. Ermöglicht wurde dieser Einsatz durch den 2012 initiierten Verein Voluntaris, der für ältere Semester solche Auslandsdienste organisiert. Mit Nießner ist nun die erste Freiwillige nach Hause zurückgekehrt.

Das Glück kleiner Fortschritte

In Salinas de Guaranda war die gebürtige Zwettlerin im zentral gelegenen Pfarrhof untergebracht, sie bekam den Tagesablauf des engagierten Padre Antonio mit und war auch bei den Besprechungen der Kooperative mit dabei. Sie selbst hat im Rahmen eines Seniorenprojekts drei Mal pro Woche Einzeltherapien für ältere Menschen angeboten und zudem mit einem elfjährigen, schwerstbehinderten Buben gearbeitet. "Marquito hatte vor zweieinhalb Jahren einen Busunfall und kann seither nicht sprechen und sich fast nicht bewegen“, erzählt Andrea Nießner. "Im Lauf der Zeit hat er aber mit dem Kopf oder mit den Augen auf Ansprache reagiert, wenn auch nur ein bisschen.“ Dass dieser Fortschritt etwas mit ihr zu tun hat, relativiert sie sogleich. Vielmehr sei es an seiner Mutter gelegen, die sich sehr um das Kind bemühe: "Sie spricht viel mit ihm, singt ihm Lieder vor, bewegt die schwerst spastischen Gelenke. Trotz aller Liebe spürt man die Schwere des Schicksals.“

Eines ist Nießner wichtig: Sie sei nicht nach Ecuador gegangen, um zu helfen oder "etwas Gutes zu tun“: "Überhaupt nicht!“, sagt sie energisch. Vielmehr habe sie eine Kultur kennenlernen wollen - und zwar von innen und "nicht auf touristischen Trampelpfaden“. Eine Begegnung auf Augenhöhe sei stets ihr Anliegen gewesen, auch wenn das manchmal gar nicht so einfach gewesen sei, wie sie selbst gesteht. Rückblickend ist sie jedoch mehr als zufrieden - und auch in ihrem Resümee um Gleichgewicht bemüht: "Ich habe etwas gegeben und die Dankbarkeit der Leute gespürt. Aber ich habe mindestens genauso viel bekommen und bin auch dankbar dafür.“

Mitgenommen hat sie beispielsweise einen großen Res-pekt für die Bedingungen, die das Leben in einer derartigen Höhe mit sich bringt. Auch was die Frauen in Salinas de Guaranda leisten, sei bewundernswert: "Sie stehen meist um halb fünf Uhr früh auf, gehen eine Stunde auf die Weide, melken die Kühe und bringen die Milch zur Käserei. Um acht Uhr fangen sie dann in der Textilfabrik oder in der Strickerei zu arbeiten an.“ Die Bedingungen in der Landwirtschaft seien hart: "Man kann sich gar nicht vorstellen, was es heißt, Kartoffeln auf diesen Steilhängen anzubauen, es gibt dort praktisch keine ebenen Ackerflächen.“

Ein Fest zum Abschied

Nicht nur die Landschaft der Anden hat ihr heimatliche Gefühle vermittelt, auch der Kontakt mit den Dorfbewohnern hat sich im Lauf der drei Monate vertieft. Gegen Ende des Aufenthalts hat sie ein Fest für die Senioren organisiert, zu dem auch ihr Lebensgefährte aus Österreich anreiste - mit im Gepäck Bilder von jener Alm, auf der die beiden auf 1900 Metern Seehöhe die Sommer verbringen. "Da entdeckt man dann, dass zwischen der Landwirtschaft dort und da eigentlich kein Unterschied ist“, erzählt sie lächelnd. "Die Kühe schauen genauso aus.“

Kaum nach Österreich zurückgekehrt, begann für Andrea Nießner der Endspurt für die Organisation einer Ausstellung anlässlich des 70. Geburtstags des Schriftstellers Bodo Hell im Wiener Künstlerhaus. Zum Gespräch im Künstlerhauscafé nebenan hat sie getrocknete Blüten einer ecuadorianischen Heilpflanze mitgebracht. "Die wächst auf 4000 bis 4500 Metern in einer Landschaft, die eigentlich wie eine Wüste aussieht. Wie diese Pflanzen versorgt werden, ist mir ein Rätsel“, sagt sie. Die Blüten stammen von einem Strauch namens Chuquiragua und werden zur Entgiftung und Entwässerung verwendet.

Da sind sie wieder, ihre drei Themen: Natur, Heilkunst und Gleichgewicht. Denn so enthusiastisch Andrea Nießner auch die drei Monate in Ecuador betrachtet: Nach Rückzugsräumen und nach mehr Zeit, ihrem inneren Gleichgewicht nachzuspüren, sehnt sie sich dann doch.

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