Welches Konzept von Ethik?

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Diese Frage stellt sich in der EU ebenso wie in der katholischen Kirche - nicht zuletzt auch rund um den kürzlich verstorbenen Moraltheologen Alfons Auer.

Seit 1992 lässt sich der Präsident der Europäischen Union in heiklen ethischen Entscheidungen, die mit der Entwicklung der Biotechnologie zusammenhängen, von einer multidisziplinären, pluralen und unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlern beraten. Im Oktober 2005 wurde die European Group on Ethics (ege) nicht nur auf 15 unabhängige Experten, sondern auch in ihrer Aufgabenstellung über die Biotechnologie hinaus auf alle neuen Technologien erweitert. So wird die nächste Opinion (Empfehlung) vom Präsidenten "Zu den ethischen Problemen der Nanomedizin" dringend erwartet. Im Überschneidungsbereich von Biotechnologie, Informationstechnologie, Neurowissenschaften und Nanowissenschaften zeichnen sich in ihrer Anwendung am Menschen Handlungsmöglichkeiten und damit ethische Entscheidungsherausforderungen neuer Art ab.

Europas "Ethik"-Gruppe

Fast alle Anregungen der ege haben Eingang gefunden in die Regelungen der Europäischen Union. Die Empfehlungen müssen daher sehr frühzeitig und sehr konkret die Richtung von Problemlösungen weisen. Bei der Arbeit an der nächsten Opinion wird die ege daher auf die Diagnose, Medikamentenapplikation und regenerative Medizin durch Nanotechnologie konzentrieren. Letztere könnte die Konzepte von Stammzelltherapien in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen. Vorher ist allerdings die schwierige Frage der wissenschaftlichen Risikoabschätzung und des Risikomanagements der Nanotechnologie zu bearbeiten.

Die Arbeitsweise der ege ist auf Kontinuität in ihren ethischen Prinzipien und auf Konsens angelegt. Nicht immer allerdings gelingt es, die unterschiedlichen Zugänge innerhalb der Differenzierungen des Dokumentes selbst zur Geltung zu bringen. Als ich 2001 das erste Mal und nun 2005 erneut in dieses Beratungsgremium berufen wurde, war der erste Auftrag, die ethischen Aspekte bei der Patentierung von menschlichen Stammzellen zu bearbeiten. Da ich mit guten Gründen (Interpretation der Biopatentrichtlinie der eu) der Patentierung von Erfindungen auf der Basis von embryonalen Stammzellen nicht zustimmen konnte, verfasste ich eine abweichende Meinung, die bei der Beeinspruchung des so genannten "Edinburgh-Patents" eine Rolle spielte: Das Europäische Patentamt entschied sich, in Hinkunft keine Patente, die die Zerstörung von menschlichen Embryonen zum Gegenstand oder zur Voraussetzung haben, zu erteilen.

Nun ist in den letzten Tagen auf Europäischer Ebene eine Debatte um die Neuzusammensetzung der ege entbrannt. Ein Mitglied, das anonym bleiben wollte, beklagte in der Zeitschrift Scientist, dass unter den neuen, vom Präsidenten José Manuel Durão Barroso berufenen Mitgliedern, praktizierende Katholiken seien. Soll die religiöse Praxis ein Ausschließungsgrund von der Mitgliedschaft der Ethikkommissionen sein? Gibt es weltanschauliche Neutralität in diesen Problembereichen? Soll in einem pluralen Gemeinwesen wie der Europäischen Union und den modernen Gesellschaften, die jeweils liberalste Regelung auf der Basis eines ethischen Minimums von vornherein zum unausgesprochenen, aber umso wirksameren Dogma erhoben werden?

Katholischer Ethik-Konflikt

Der Konflikt findet aber auch innerhalb der katholischen Kirche statt: Welches Konzept von Ethik darf innerhalb dieser Kirche vertreten werden? Einer der bedeutendsten Moraltheologen in der Erneuerung dieses Faches nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist am 18. November verstorben. Alfons Auer vertrat in seinem 1971 veröffentlichten Werk eine autonome Moral im christlichen Kontext und hat mit diesem Konzept eine weithin nicht immer konfliktfreie Wirkungsgeschichte initiiert: Sein Anliegen ist es, die vernünftige ethische Argumentation möglichst weit voranzutreiben, anschlussfähig zu sein im ethischen Diskurs der Gegenwart und dennoch die Wechselwirkung zwischen dem Sinnhorizont des christlichen Glaubens, der Hoffnung und der Liebe und den rational-ethischen Diskurs möglichst differenziert zur Geltung zu bringen. Ihm wollte die Universität Wien 1992 die Ehrendoktorwürde verleihen. Kardinal Groër verhinderte diesen Akt. Erst neun Jahre später, als Alfons Auer nicht mehr reisen konnte, durfte ich ihm die Urkunde nach Tübingen bringen und überreichen. Ist es ein Zufall, dass die Schüler dieses großen Moraltheologen in politischen Ethikkommissionen am meisten präsent sind?

Noch mit achtzig Jahren hat Alfons Auer ein ebenso realistisches wie Hoffnung vermittelndes Buch "Geglücktes Altern" verfasst: "Im Alter geht es um die Vollendung der Freiheitsgeschichte." Durch sein ganzes reiches Lebenswerk zog sich die Ermunterung zu mehr Vernunft, Freiheit und Solidarität. Trotz aller Spannungen, die dieses Glaubens- und Lebenskonzept ihm von Seiten des Lehramts eingebracht haben, betrachtete er seine Kirche immer als "heimatstiftend, da sie ein umfassendes Sinnverständnis vermittelt, mit dem man leben und sterben kann".

Dafür ist Alfons Auer über seinen nach langer Krankheit eingetretenen Tod ein glaubwürdiger, akademischer und kirchlicher Zeuge.

Der Autor ist Professor für Moraltheologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien.

Bücher von und zu Alfons Auer:

* Autonome Moral und christlicher Glaube Von Alfons Auer, Düsseldorf 1971

* Geglücktes Altern Von Alfons Auer. Freiburg 1995

* Autonome Moral im christlichen Glauben Reden zum 90. Geburtstag von Professor Dr. Alfons Auer

Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübinger Universitätsreden Bd. 42, 2005

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