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Worauf kann man sich noch berufen?

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Alles ist heute in Fluß geraten. Wo sind die Fixpunkte, von denen her man die Entwicklung beurteilen und steuern könnte? Ein Symposium in Salzburg warf neue Fragen auf.

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Alles ist heute in Fluß geraten. Wo sind die Fixpunkte, von denen her man die Entwicklung beurteilen und steuern könnte? Ein Symposium in Salzburg warf neue Fragen auf.

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Worauf kann man sich noch berufen? — So lautete das Thema eines Symposions, das vom 20.-23. November in Salzburg der Frage nach Erscheinungsbild und Verständnis von Normen und Werten in Umbruchszeiten nachging. Eingeladen hatte die Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie gemeinsam mit dem Salzburger Institut für Rechtsphilosophie, Methodologie der Rechtswissenschaften und Allgemeine Staatslehre.

Gekommen waren neben Juristen und Philosophen auch Sprachwissenschafter, Soziologen, Historiker, Politikwissenschafter und Psychologen aus der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und Osterreich. Dies ist zum einen auf die Aktualität des Themas zurückzuführen.

Zum andern bestätigt es die vielfach erhobene These, daß die in der Rechtsphilosophie beheimatete Grundlagenforschung für die Rechtswissenschaften auf fächerübergreifendes wissenschaftliches Arbeiten angewiesen ist. So wird sie dann auch in die Lage versetzt, den rechtswissenschaftlichen Einzeldisziplinen solide Basisdaten zur Verfügung zu stellen.

Worauf kann man sich also berufen? Abgehoben von der Alltagserfahrung zeigt sich die gegenwärtige Zeit des Umbruchs auch auf der Ebene wissenschaftlicher Tagungen: Sie haben weder die Absicht noch das Vermögen, verbindlich über Fragen dieser Art Auskunft geben zu können.

Und wenn dieses fehlende Vermögen nun eingestanden wird, so deutet das vielleicht nur darauf hin, daß es auch in Zeiten, in welchen alles sicher und gefestigt erschien, nie besessen wurde.

Der Zweck solcher Symposien besteht vielmehr darin, eingefahrene Bahnen eines gut gelernten Frage-Antwort-Spiels zu verlassen, um den Blick auf neue Probleme und Lösungsansätze freizulegen. Eine neue Frage kann sich so in mancher Hinsicht wertvoller erweisen als so manche alte Antwort.

Worauf also kann man sich noch berufen? Kann sich der Mensch in seinem Handeln auf Traditionen (Joachim Dalfen, Salzburg), auf die Vernunft (Peter Strasse, Alfred Schramm, Graz), auf die Geschichte - wissenschaftlich fundiert, auf Geschichten — vorgefunden in der Welt von Mythos, Sage, Märchen (Reinhold Knoll, Wien; Michael W. Fischer, Salzburg; Karl Acham, Graz) berufen?

Kann er sich auf rechtliche oder moralische Normen (Hermann Lübbe, Zürich; Franz Bydlinski, Günther Winkler, Wien; Ota Weinberger, Peter Koller, Graz; Helmut Holzhey, Zürich; Helmut Schreiner, Erhard Mock, Salzburg), auf Demokratie (Anton Pe-linka, Innsbruck; Paul Trappe, Basel), auf Philosophie (Wilhelm R. Beyer, Nürnberg/Salzburg), auf das im weitesten Sinn Religiöse (Erwin Bader, Wien; Thomas Chaimowicz, Heinrich E. Stra-kosch, Salzburg) berufen?

Ja, kann sich der Mensch heute noch schlicht und einfach auf die Tatsache berufen, Mensch zu sein (Mohammed Rassem, Salzburg)?

Wenn nun diese letzte Frage aus der Fülle der an diesem Symposion gestellten Fragen herausgegriffen und der Anonymität enthoben wird, so liegt es an der gebotenen Beschränkung und an der Neigung des Verfassers, nicht an der Qualität oder Brisanz der ausgeschlossenen Themen.

Bis vor kurzem galt es zumindest als biologisch gesichert, was der Mensch ist: es stand empirisch fest, war naturgegeben, menschlicher Verfügung entzogen. Die Biotechnologie gibt nun die Möglichkeit, diese — letzte? — Berufungsinstanz dem Menschen verfügbar zu machen und damit prinzipiell der Veränderbärkeit zuzuführen (Walter Ch. Zimmer-Ii, Braunschweig).

Der klonierte, genetisch manipulierte, vom Menschen geschaffene Mensch rückt in greifbare Nähe. Der biotechnologische Hintergrund von Samenbanken über Mietmütter bis hin zu Genänderungen ist schon vielfach diskutiert worden.

In Salzburg wurde nun anschaulich gezeigt, wie wissenschaftliche Errungenschaften, welche die Handlungsmacht des Menschen ausweiten, auch auf Recht, Moral und Ethik verändernd zurückwirken.

An einem Beispiel aus der Geschichte extrakorporaler Insemination sei dies verdeutlicht: Nach Gründen für Auswahlkriterien für Samenspender befragt, antwortete ein Arzt gegenüber einer Münchner Zeitung: „Unsere Kunden verlangen beste Qualität." Hier wird — anscheinend weder dem zitierten Arzt noch dem zitierten Medium bewußt — der Mensch zur Ware, er wird seiner Würde entblößt, er fällt in die Schublade hoher Qualität oder auf die Halde genetischen Mülls.

Gewiß, dies ist überspitzt formuliert, aber wir stehen gegenwärtig in der Tat vor der möglichen Klassifizierung in das Produkt „Mensch" und das Abfallprodukt „Mensch". Gewiß, dies sind mögliche Grenzfälle, mögliche ungewollte Nebenfolgen wissenschaftlichen Tuns.

Aber sie veranschaulichen uns, daß tradierte und bewährte rechtliche, moralische und ethische Normen plötzlich unter von Menschen geänderten Bedingungen nicht mehr in der Lage sind, die soziale Wirklichkeit adäquat zu erfassen und zu regeln: bewährte Steuerungsmechanismen „greifen" dann einfach nicht mehr.

Welche Berufungsinstanzen können dann zum Tragen kommen, können — ganz im Wortsinn

— wieder Boden unter den Füssen verschaffen? Gleichheit und Verallgemeinerungsfähigkeit wurden in Salzburg als formale Kriterien vielfach genannt.

Als formale und inhaltliche Berufungsinstanz galt der Gedanke der Humanität im Sinne einer Verbindung der Begriffe „Menschlichkeit" und „Menschheit". Und hier werden wir zurückverwiesen auf Grundwerte unserer abendländischen Kultur

— auf kontingente, auf zufällige Herkunftsbedingungen —, wie Hermann Lübbe es formulieren würde.

Der Autor ist Assistent am Institut für öffentliches Recht und Politikwissenschaft an der Universtität Innsbruck.

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