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Digital In Arbeit

Lernen durch akustischen Reiz

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dieFurche: Wie begann Ihr Werdegang?

Albertine Wesetzky: Ich habe 1962 den damals dreijährigen Sonderlehrgang Musiktherapie absolviert. Ich habe viele Vorlesungen in Musikwissenschaft an der Universität besucht, am Konservatorium Flöte und Ausdruckstanz gelernt.

dieFurche: Haben Sie die Musiktherapie an der Klinik von Professor Andreas Bett am Lainzer Krankenhaus und am Rosenhügel begonnen?

Wesetzky: Meine Vorgängerin hat bereits mit Kindern musiziert, gezielte Musiktherapie aber gab es nicht. Ich bekam dann von Rett die Erlaubnis, als unbezahlte wissenschaftliche Hilfskraft arbeiten zu dürfen. Später wurde ich an die Hochschule berufen, um dort ein Praktikum für Kinderarbeit anzubieten.

dieFurche: Ist Ihre Arbeit mittlerweile wissenschaftlich anerkannt?

Wesetzky: Heute kann man viel mehr naturwissenschaftlich nachweisen. Solange wir nur auf Erfahrungen und Beobachtungen angewiesen waren, hat man uns vieles nicht geglaubt. Wenn man den Menschen nicht mehr über andere Sinne erreicht, kann man ihn über das Hören erreichen. Während alle anderen Sinnesbereiche das Großhirn brauchen, braucht das Hören das Großhirn nicht.

dieFurche: Seit kurzem ist die Ausbildung der Musiktherapie vom Sonderlehrgang zum Kurzstudium umgewandelt worden und eingegliedert der Abteilung Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Sie sind darüber nicht sehr glücklich?

Wesetzky: Ich plädiere für eine Zusammenarbeit mit dem Arzt. Ich war dagegen, daß Musiktherapeuten selbständig arbeiten. Die Musiktherapie gehört an die Universität. Vor zwei Jahren wurde die Musiktherapie der Musikpädagogik eingegliedert, da läuft sie Gefahr, zuviel Wissen zu vermitteln. Der Sonderlehrgang hatte einen Schwerpunkt in der naturwissenschaftlichen und medizinischen Ausbildung. Wir brauchen den Prozeß, aber nicht pädagogische Ziele. Ein Musiktherapeut muß fundierte musiktechnologische Kenntnisse haben, von anderen Tonsystemen, von praktischen rhythmischen Fähigkeiten wissen. Musiktherapie ist nicht Gewährenlassen, oder nicht nur. Musiktherapie ist mühsame Arbeit, nicht nur Zuwendung. Wir sprechen ja auch nicht von Therapie, wenn wir ins Konzert gehen - und es ist zum Teil Therapie.

dieFurche: Wie läuft Ihre Arbeit ab?

Wesetzky: Nach der Diagnose wird entschieden, welche Therapie das Kind braucht. Bei ganz schweren Fällen - bei sprachgestörten oder sehr kleinen Kindern - ist fast immer die Musiktherapie die erste Therapieform. Ich übte zum Beispiel mit einem schweren Spastiker, der weder Arme noch Beine bewegen konnte, Musikdiktate. Er mußte mit Blicken reagieren. Aber das Diktat ist nicht Selbstzweck, sondern trainiert das Wiedererkennen und das Gedächtnis.

dieFurche: Woher kamen die Kinder, die Sie bei Primarius Rett betreuten?

Wesetzky: Die Kinder wurden stationär und ambulant behandelt. Es gab verschiedene Schultypen in kleinen Gruppen. Wir versuchten, auch einen Schultyp für Kinder einzurichten, die als nicht förderbar eingestuft wurden. Rett hat seine Patienten lebenslänglich betreut. Er ist unersetzlich, und die Eltern sind seit seiner Pensionierung sehr traurig.

dieFurche: Wann begann Ihre Arbeit als Musiktherapeutin im Therapieprozeß?

Wesetzky: Bei ganz Kleinen oder Schwerstbehinderten war ich die erste Kontaktperson: Kinder, die nicht sprechen konnten, die niemanden ansehen konnten. Mit Hilfe der Musik gibt es einen Weg zu ihnen. Der akustische Reiz versetzt das Kind in eine Spannung, dieser wird dann mit einer immer größeren Verzögerung angeboten. Die verzögerte Darbietung löst eine sogenannte Orientierungsreaktion aus, sie ist die Voraussetzung jedes Lernprozesses. Die Musiktherapie kann fast für alle Therapien den Weg bereiten. Der Logopäde verlangt für seine Therapie zum Reispiel, daß das Kind ihm auf den Mund schauen kann. Die Eltern erwarten Hilfe - das Kind soll gehen, essen, greifen lernen, sodaß es die notwendigen Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags erlernt. Dabei sind für den Therapeuten entwicklungspsychologische Kenntnisse unerläßlich.

dieFurche: Wie entwickelten Sie Ihre Vorgangsweise?

Wesetzky: Es gab keine Methode: Ich mußte mühsam Lerntheorien übertragen und umwandeln. Ich habe zum Beispiel Musik gesucht, die hohe Aufmerksamkeit bewirkt und schließlich die eines Indianerstammes erworben. Durch die Beobachtung erkannte ich, daß Angst aggressiv macht. So habe ich gelernt, Angst zu erzeugen und mit dieser zu agieren.

dieFurche: Kann Musiktherapie auch Schaden anrichten?

Wesetzky: Ja, leider. Man kann Aggressionen erzeugen, bestimmte Frequenzen können Epilepsie auslösen.

dieFurche: Sie haben auch mit Erwachsenen gearbeitet?

Wesetzky: Eine Patientin am Steinhof ist mit schwerer Schizophrenie in einem Gitterbett gelegen. Sie hatte seit zwei Jahren nicht mehr gesprochen. Ich kam mit der Gitarre, sie hat spontan mitgesungen. Dabei ist sie über sich selbst, über diesen tierähnlichen Laut, so sehr erschrocken, daß sie sofort wieder aufgehört hat. Am Ende der ersten Stunde hat sie zu mir gesagt: Sie haben eine schöne Gitarre. Schließlich konnte sie aufstehen, wir führten Gespräche über Minnesang.

Das Gespräch führte Irene Suchy.

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