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Vom alten Orient nach Rosenau

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Den seelischen Anfeil der Krankeit heilen wollten die Seldschuken und Osmanen- in Istanbul wird die Tradition wieder aufgenommen.

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Den seelischen Anfeil der Krankeit heilen wollten die Seldschuken und Osmanen- in Istanbul wird die Tradition wieder aufgenommen.

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Die Leute in Rosenau wissen, wo die „Musikschule" liegt: in einem Bauernhof in Niederneustift. In jener Gegend des Waldviertels, wo einst die Ufer des Urmeeres waren liegt er, so gerichtet, daß die Sonne ihn den ganzen Tag bestrahlt, liebevollvorsichtig renoviert. Daneben in der Wiese steht ein Kirgisenzelt, ganz aus Filz. In der Mitte ein Hof, der wie in den altorientalischen Musikspitälern ein Garten ist und nur noch auf jenen kleinen Brunnen wartet, der das spontane Denken anregen soll.

Der linke Teil ist Wohn- und Lebensbereich für mehrere Familien. Die Räume des rechten - sind Werkstatt, Unterrichts- und Übebereich für die Studenten. An den Wänden hängen Zupf- und Flöteninstrumente. In kleinen Übungszimmern praktizieren die Studenten, auf Teppichen und Fellen sitzend.

Im nahegelegenen Krankenhaus in Zwettl arbeitet ein Musiktherapeut und Schüler der Schule schon mit einem Physiotherapeuten zusammen. Die Politiker der Region würden sich über des Schulleiters Vorschläge freuen, die Schule mit anderen Formen des musikalischen Heilens auszubauen und schon in nächster Zeit mit einem Öffentlichkeitsrecht auszustatten, sagt ihr Leiter, Gerhard Tucek. Er wollte zuerst Theologie studieren und Priester werden. Mit seiner Tätigkeit des Heilens ist er dem ursprünglichen Berufswunsch nahegekommen.

Die Türkei der Seldschuken und Osmanen kannte Musikspitäler, in denen die Musiker in strenger Hierarchie zusammenarbeiteten. Die höchsten unter ihnen hatten direkten Kontakt zur geistigen Welt - sie waren Priester, Schamanen, Derwische. Die orientalische Musiktherapie der Seldschuken und Osmanen wollte den seelischen Anteil der Krankheit heilen: „Der Körper ist krank, wenn die Seele geschwächt ist, und er ist beeinträchtigt, wenn sie beeinträchtigt ist."

Positive Gefühle sind die Voraussetzung für die Aktivierung des Autoimmunsystems. Musik konnte in Schlaf versetzen „als ob man tot wäre", sie konnte zum Weinen und zum Lachen bringen, Schmerzen lindern, Charaktereigenschaften verbessern, Trost und Ablenkung von Betrübnis bringen — jedoch erst, nachdem das Kränkende beseitigt worden war. Die Musik, eingesetzt wie in der altorientalischen Musiktherapie, sollte einem Affektzustand entgegenwirken, ihn aufheben und ausgleichen.

Die Laute war eines der Instrumente der Musiktherapie, jede Saite entspricht einem Element. Jede Tageszeit hatte ihren Rhythmus. In Edirne, einem der Musikspitäler und gleichzeitig Medizinschule, die es ab dem elften Jahrhundert bis ins 17. Jahrhundert gab, arbeitete ein Arzt mit sieben bis zehn Musikern. Dazu gab es ätherische Öle, schöne Dinge wie Rosengärten, Wasser - und andere Therapien.

Was die Menschen bewogen hat, ihre Heilkräfte aus der Musik zu vergessen? In der Türkei war es, mutmaßt Gerhard Kadir Tucek, der aufkeimende Modernismus, der alte Traditionen unterdrückte. Vielleicht ist es gerade jetzt die Unfinanzierbarkeit des modernen Gesundheitssystems, die die Wiedererinnerung an alte Heilkräfte fördert.

Die Universitätsklinik in Istanbul hat Musiktherapie wieder in ihre Heilformen aufgenommen. In der Türkei ist die Überlieferung der alten Lehren nicht ganz verschüttet, aber ihre mündliche Überlieferung unterbrochen. Schriftliche Quellen und Dokumente mußten gesammelt und gedeutet, in jahrelanger empirischer Forschung erprobt und bewiesen werden. Gerhard Tucek hat elf Jahre lang in Istanbul studiert, bei Doktor Rahmi Oruc Güvenc, der in der Buchreihe der Schule seine Dissertation über den „Geschichtlichen Abriß der Musiktherapie im allgemeinen und im besonderen bei den Türken und ihr heutiger Stand" verfaßt.

Die Musik, mit der gearbeitet wird, ist Pentatonik, „Geschenk an die Menschheit" genannt. Sie entsteht, wenn man einer Oktave sechs Noten entnimmt - zum Beispiel die schwarzen Tasten am Klavier. Sie klingt fernöstlich, entstand in Zentralasien, kam im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Anatolien und ist die Wurzel der Musik der Baksi-Scha-manen.

Die fünf Stufen entsprechen - besser: lassen anklingen - den fünf verschiedenen Elementen Feuer, Erde, Metall, Holz und Luft und müssen in Harmonie zueinander stehen, damit es den Menschen gut geht.

Nicht die ganze Welt müsse nun die Lehre der altorientalischen Musiktherapie annehmen, meint Gerhard Tucek. Es genüge, wenn einige die Lehre weitergeben. Musiktherapie ist keine Ethoslehre, keine Religion, sie hat keinen Alleinanspruch und verneint Ausschließlichkeit. Gerhard Tucek kann sich vorstellen, gemeinsam mit den Musiklehren anderer Religionen zusammenzuarbeiten: mit christlicher Kirchenmusik, schamanischen, mohammedanischen und buddhistischen Traditionen.

Die Therapie-Ausbildung beinhaltet vier Ausbildungsblöcke zu vier Tagen über sechs Jahren, inklusive eines Vorstudienlehrganges. Zu den Fächern gehören Solfeggio, Musiktheorie, Akustik und Instrumentalkunde, Rhythmuslehre und Musikgeschichte, philosophische Grundlagen und Praktika zur aktiven wie rezeptiven Musiktherapie wie zur Bewegungslehre, psychologische Fächer, Musikethnologie und praktisches Instrumentalspiel.

Neben der Therapieausbildung gibt die Schule Schriftenreihe und Tonkassetten heraus. Die Zusammenarbeit der Schule mit anderen Musiktherapieeinrichtungen und Wissenschaftlern dokumentieren ein für 1996 geplantes Symposium „Musik und Emotion" und eines „Musik und Immunsystem". (Die Schule für Altorientalische Musik- und Kunsttherapie liegt in Niederneustift 66 bei 3924 Schloß Rosenau. Tel.: 02822/8463.)

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