6881966-1979_12_21.jpg
Digital In Arbeit

Musik hilft heilen und erziehen

Werbung
Werbung
Werbung

Die Betrachtung der Menschheitsgeschichte läßt in allen Kulturen die bedeutsame Rolle der Musik für den kultisch-religiösen, künstlerischen.pädagogi-schen und medizinisch-therapeutischen Bereich erkennen, wobei die Interpretation des Zusammenhanges zwischen Mensch und Musik entsprechend dem jeweiligen Weltbild, der Gesellschaftsform und den verschiedenen medizinischen Lehrmeinungen erfolgte. Die ersten wissenschaftlichen Ansätze für eine Weiterentwicklung der Musiktherapie entstanden in den USA durch vorwiegend klinisch-empirische Forschungen und in Europa durch namhafte Autoren wie Teirich, Jaedicke, Pont-vik und vor allem Schwabe.

Ihre traditionellen Disziplinen wie Medizin, Psychologie, Anthropologie, Musikpädagogik und Musikwissenschaft, die bisher die Beiträge für die Grundlagenforschung der Musiktherapie lieferten, werden neuerdings durch Kommunikationstheo-

„Zur Wiederherstellung einer gestörten, emotionalen Erlebnisfähigkeit“ rie, Psychologie, Vergleichende Verhaltensforschung, Soziologie, sowie neue psychotherapeutische Richtungen ergänzt zu dem interdisziplinären Forschungsspektrum der modernen Musiktherapie.

Musiktherapie ist heute in einem relativ umfangreichen, internationalen Schrifttum dokumentiert; bei zahlreichen Kongressen vorgestellt, zeigt sie vielfaltige, differenzierte, unterschiedliche Ansätze und wird vor allem als unterstützendes, nonverbales Verfahren der Psychotherapie im Rahmen der Psychiatrie, Psychosomatik, Neurologie,.Pädiatrie, Rehabilitation, Geriatrie eingesetzt. Außerdem spielt sie eine wichtige Rolle im sich ständig ausweitenden, heilpädagogischen und sozialpädagogischen Betreuungsfeld.

Zunächst unterscheidet sich Musiktherapie, sowohl als Einzel- wie auch als Gruppenbehandlung, durch zwei grundsätzlich verschiedene Anwendungsformen: die Rezeptive Musiktherapie und die Aktive Musiktherapie.

Bei der Rezeptiven Musiktherapie ist - entgegen der üblichen Auffassung - nicht nur die speziell ausgewählte Musik von Bedeutung. Entsprechend dem jeweils angewandten Verfahren werden für den Patienten zunächst situative, entspannende, auf eine möglichst ungestörte, akustische Aufnahme hin orientierte Vorbereitungen getroffen; dabei werden gleichzeitig Empfehlungen gegeben, um eine für den beabsichtigten, auszulösenden, therapeutischen Prozeß bestimmte Höreinstel-lüng zu erreichen, etwa als Entlastung bei neurotischen Symptomen im Sinne etwa der Wiederherstellung einer gestörte/i, emotionalen Erlebnisfähigkeit.

Die Musikaufnahme kann dabei einfach zuhörend, bewußt rezeptiv oder in einem hypnoiden Zustand erfolgen; die Aufmerksamkeit kann sich entweder vorwiegend auf musikalische Faktoren (Form, Programm) richten, oder - wie bei einem bestimmten Entspannungsverfahren -in einer Korrespondenzhaltung die Aufmerksamkeitsverteilüng zwischen beiden Bereichen anstreben.

Gemeinsames Musikhören kann als kommunikatives „warming up“ zwischen Patient und Arzt vor der verbalen Therapie eingesetzt werden, oder aber - nach Selektion von Musik mit vorwiegend emotionalem Gehalt - zur Reaktivierung von unbewußten, pathogenen Konfliktinhalten führen, um auf diesem Weg eine bessere Aufarbeitungsbereitschaft für die Psychotherapie zu erreichen.

Die methodisch fundierte Aktive Musiktherapie muß grundsätzlich gegenüber einer häufig angewandten, fälschlich als Musiktherapie deklarierten, allgemeinen musikalischen Beschäftigung mit Patienten abgegrenzt werden.

Bei den aktiven Verfahren bietet man, unabhängig von der musikalisch-instrumentalen Vorbildung des Patienten, mit entsprechend einfachen Instrumenten ein nonverbales

Ubungsfeld für emtionelle und sozial-kommunikative Prozesse an.

Beispiele hiefür sind das Orff-In-strumentarium. diverse leicht spielbare Saiteninstrumente wie Leier, Ektara, Psalter, Tischharfe, pentato-nische Flöten oder englische Handglocken.

Durch den Aüfforderungscharak-ter der Instrumente, bei einem Minimum von Vorzeigen und ohne schulmeisterlich-pädagogische Beeinflussung kann Motivation für spontanes, kreatives Gestalten entstehen, wobei für ganz bestimmte therapeutische Ziele diverse, auch vom musikalischen Laien nachvollziehbare Improvisationsformen dienen.

Entsprechend kann über das traditionelle Singen hinaus auch der stimmliche Einsatz variiert sowie die Verbindung zu verschiedenen anderen Ausdrucksbereichen wie Bewegung, Tanz, Musikalische Graphik hergestellt werden.

In der Einzeltherapie bieten die zahlreichen Möglichkeiten des freien Partnerspieles mit Instrumenten ein ergiebiges, psychologisches Bezugsfeld, in welchem durch spontanes Agieren und Reagieren Mängel der Ausdrucks- und Kommunikations-fahigkeit „hörbar“, „erkennbar“ und schließlich „korrigierbar“ werden.

Ein weiteres Arbeitsfeld stellt die vom Therapeuten behutsam angeregte Improvisation der Gruppe dar. Durch die freie Wahl der Instrumente, dem sukzessiv einsetzenden Spielbeginn sowie das Bemühen, aufeinander zu hören, Rücksicht zu

„Diese Ausbildung erfordert ein komplexes Lehrgut“ nehmen, anderseits sich doch auch aktiv, hörbar durchzusetzen, werden sehr bald die unterschiedlichen sozialen Verhaltensweisen der Patienten beim Führen, Folgen und gemeinsamen Gestalten sichtbar und können so in der weiteren Gruppenarbeit zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung führen.

Im heilpädagogischen Bereich eröffnet sowohl der rezeptive als auch der aktiv-spielende Umgang mit elementaren Musikformen eine Fülle von gezielten, therapeutischen Wirkungen, die nun je nach Art und Schwere der geistigen, emotionalen oder körperlichen Behinderung kompensatorisch angewandt werden. Innerhalb der Sozialpädagogik werden vor allem die durch Musik auslösbaren Sozialisierungsvor-gänge als Erziehungshilfen im Vordergrund stehen.

Für die interdisziplinäre, musiktherapeutische Ausbildung besteht seit 1959 an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, in enger Zusammenarbeit mit führenden Medizinern, die auch die medizinische Leitung innehaben (Prim. Otto Hartmann, Univ.-Prof. Andreas Rett, Univ.-Prof. Erwin Ringel), ein dreijähriger, international anerkannter Lehrgang für Musiktherapie.

Diese spezielle Ausbildung erfordert, entsprechend den medizinischen und heilpädagogischen Anwendungsgebieten, einerseits ein komplexes, methodisch wohl aufbereitetes und mit Engagement angebotenes Lehrgut, anderseits eine relativ hohe Erfahrungs- und Integrationsbereitschaft vom Studierenden, wobei neben den notwendigen, medizinischen, psychologischen und musikalischen Studien intensiv und unter Beobachtung der soziodyna-mischen Prozesse an der „Aufschließungsproblematik“ für musikalische Rezeption und Aktivität gearbeitet wird.

Im lebendigen Wechsel zwischen Bereitschaft und Handeln sowie zwischen Reflektieren und Verbalisieren wird durch die dabei ausgelöste Sensibilisierung frei-schöpferisches Gestalten erlebt und zwar sowohl mit einfachen und komplexen, musikalischen Strukturen als auch kombiniert mit anderen Ausdrucksbereichen, wobei gerade diese Erfahrungen entscheidend zudem für die Qualifikation des Musiktherapeuten notwendigen Reifungsprozesses beitragen.

(Der Verfasser ist Leiter des Lahrganges für Musiktherapie an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Bei ihm können auch Literaturhinweise angefordert werden.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung