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"Manche fürchteten um die letzten naturbelassenen Landschaften, manche eine Zunahme der Verkehrsbelastung. Anderen wurde bewusst, wie sehr die Arbeit im Tourismus das Familien- und Gesellschaftsleben zerstörte - und schließlich sahen einige Grödner die letzten Reste ihrer ladinischen Kultur bedroht."Reinhard Seiß Der Jahrtausende alte Kulturraum ist durch die ständig expandierende Tourismusindustrie bedroht. Lokalaugenschein aus Gröden, dem Ski-Mekka Südtirols.

Kommendes Wochenende ist es wieder so weit: Wie jedes Jahr knapp vor Weihnachten macht der Alpine Ski-Weltcup Station in Gröden, das spätestens seit der Ski-Weltmeisterschaft 1970 zu den Global Player des Winterfremdenverkehrs zählt. Die zwölf Dolomitentäler der Region bilden zusammen eines der größten Skigebiete der Welt - Dolomiti Superski. Allein Gröden verfügt über 60 Kilometer Gondelbahnen, Seilbahnen und Lifte. Die Aufstiegsanlagen überwinden insgesamt 16.000 Höhenmeter und haben eine Kapazität von rund 90.000 Personen pro Stunde.

Aber auch im Sommer ist die Heimat von Luis Trenker mit seiner atemberaubenden Berglandschaft um den Langkofel eine touristische Top-Adresse. Kolonnen von Autos, Motorrädern und Bussen mit deutschen, niederländischen und französischen, britischen, amerikanischen oder japanischen Tagesgästen quälen sich dann auf über 2.200 Meter hinauf: Sella, Gardena, Pordoi, Compolongo - an einem halben Tag sind so gut und gerne vier Dolomiten-Pässe zu sehen, ohne dass man aus dem Fahrzeug aussteigen müsste. Und auf der Seiser Alm räkeln sich italienische "Alpinisti" in Badehosen und Bikinis auf Liegestühlen in der Höhensonne.

Retortenstadt Wolkenstein

Allerdings hat der Massentourismus im einst bäuerlich geprägten Grödner Tal tiefe Spuren hinterlassen. Hotels und Seilbahnen schossen aus dem Boden, Straßen wurden durch die Landschaft geschnitten und breite Pisten den Hängen und Almen abgerungen. Nahezu jede Grödner Familie investierte in das große Geschäft mit der Freizeit, baute ihr Bauernhaus in eine Privatpension um und stellte noch ein zweites oder drittes Gästehaus daneben. St. Ulrich, der eigentliche Hauptort Grödens, ist in touristischer Hinsicht mittlerweile zum Schlusslicht geworden - von St. Christina überholt und vom einst ärmlichen Wolkenstein überflügelt. Die Retortenstadt Wolkenstein, Ausgangsort der meisten Liftanlagen, zählt heute 2.400 Einwohner - und verfügt über 8.000 Gästebetten.

Mit dem Aufstieg des Tourismus ging der Niedergang der Landwirtschaft einher. Von rund 250 Betrieben, die es um 1900 in Gröden gab, blieben nur noch fünf Vollerwerbsbauern über. Raffael Moroder und seine Familie zählen zu den letzten, die von ihrem Hof leben können. Natürlich sei das Bauernsterben ein europaweites Phänomen, ist sich Moroder im Klaren. In Gröden gäbe es neben niedrigen Agrarpreisen und den Erschwernissen der alpinen Landwirtschaft aber noch andere Gründe für den dramatischen Schwund - etwa das höhere Preisniveau, das der Tourismus verursacht: "Bei uns ist einfach alles teurer. Einheimische, die im Fremdenverkehr arbeiten, können sich das aufgrund höherer Löhne trotzdem leisten. Ich als Bauer bekomme für meine Milch deshalb aber nicht mehr bezahlt."

Tourismus frisst Wiesen

Viele Höfe wurden aufgegeben, da der Tourismus genügend Jobs bot - mit leichterer Arbeit und obendrein besser bezahlt. Viele Wiesen wurden aufgegeben, da der Fremdenverkehr eine kaum zu stillende Baulandnachfrage bewirkte - nicht zuletzt für die vielen Zweitwohnsitze, die die Bauland- und Wohnungspreise auch für Einheimische sukzessive in die Höhe treiben. Erst wenn es einmal ganz vorbei ist mit der Landwirtschaft, werde man erkennen, so Raffael Moroder, "dass niemand mehr die Landschaft pflegt, die ja das eigentliche Kapital des Tourismus ist."

"Die bedingungslose Hinwendung Grödens zum Massentourismus bleibt in der Bevölkerung mittlerweile nicht mehr unwidersprochen", weiß Leander Moroder. Der Leiter des Ladinischen Kulturinstituts führte Anfang der neunziger Jahre den Protest gegen eine neuerliche Austragung einer Ski-Weltmeisterschaft an. Damals begann sich der Höhenflug des Fremdenverkehrs in Gröden abzuschwächen - andere, jüngere Skisportregionen wiesen ein moderneres Angebot auf. Deshalb wollte der Grödner Tourismus mit einem neuerlichen Investitionsschub im Zuge einer WM "zurückschlagen".

Doch konnte die Bürgerliste um Leander Moroder die unterschiedlichen Zweifel der Bevölkerung gegenüber einem weiteren Ausbau der an ihren Entwicklungsgrenzen angelangten Region auf einen Nenner bringen: Manche fürchteten um die letzten naturbelassenen Landschaften, manche erwarteten eine weitere Zunahme der Verkehrsbelastung. Anderen wiederum wurde bewusst, wie sehr die Arbeit im Tourismus das Familien- und Gesellschaftsleben zerstörte - und schließlich sahen einige Grödner durch die Freizeitindustrie die letzten Reste ihrer ladinischen Kultur bedroht. Wie in vier weiteren Dolomitentälern wird in Gröden noch das rätoromanische Ladin gesprochen - das durch den permanenten Umgang mit deutschen und italienischen Touristen aber zunehmend verkümmert ist. So stimmten die 8.000 Grödner zur allgemeinen Überraschung mehrheitlich gegen eine zweite Weltmeisterschaft.

Ladinische Kultur bedroht

Das zugkräftigste Argument der Tourismuslobby, sie arbeite im Interesse der heimischen Bevölkerung, da die meisten Grödner vom Fremdenverkehr leben, hatte seine Logik damit verloren. Ungeachtet dessen wird dieses Motiv von den Touristikern aber nach wie vor angestrengt. Und auch, dass es in den Dolomiten in Folge des Klimawandels zuletzt kaum mehr Schnee gab, ließ sie vor weitern Expansionsplänen nicht zurückschrecken. Bereits 90 Prozent der insgesamt 175 Pistenkilometer in Gröden werden heute künstlich beschneit. Dafür bedarf es riesiger Wasserspeicher, die Sommer für Sommer in die Berggipfel gegraben bzw. erweitert - und mit Unmengen an Wasser befüllt werden. Im Winter kostet die Umwandlung in weißes Pulver schließlich enorme Mengen an Energie.

Gegen weiteren Ausbau

Statt einer weiteren Steigerung der Quantität fordert Leander Moroder, inzwischen auch Gemeinderat in St. Ulrich und Vorsitzender der Südtiroler Grünen, eine Hinwendung zum Qualitätstourismus: "Fragt man unsere Urlauber, ob sie etwas von der ladinischen Sprache wissen oder die heimische Küche kennen, stößt man in der Regel auf Ahnungslosigkeit." Sein Appell zu mehr Authentizität im Umgang mit den Gästen gerät bei manchen Grödner Wirtschaftstreibenden aber wiederum zu einer hohlen Vermarktungsstrategie. So wandelte sich der Baustil von der zweckbetonten Nüchternheit der siebziger Jahre zu einem nicht minder hässlichen, alpenländischen cross-over-Kitsch. Ein Wolkensteiner Hotelier demontierte für seine Gäste gar eine Bauernstube aus einem aufgelassenen Hof eines Nachbartals und baute sie als Referenz seiner Heimatverbundenheit in sein modernes Vier-Stern-Hotel ein.

Cross-over Kitsch

Rudolf Moroder beklagt generell den Verlust an Ehrlichkeit im Tal. Der knapp 90-jährige, stets der Moderne verpflichtete Holzbildhauer ist der wohl bedeutendste aktive Künstler Grödens. "Nebenbei" war er in den sechziger Jahren - als Quereinsteiger - auch einmal Bürgermeister von St. Ulrich. Von der Politik in Gröden ist er mittlerweile so sehr enttäuscht, dass er vor kurzem seine Ehrenbürgerschaft zurücklegte. "Wer es wagt zu kritisieren, macht sich sehr schnell Feinde im Tal", weiß Rudolf Moroder aus eigener Erfahrung und konstatiert ein großes Defizit an echter Demokratie und notwendiger Bürgerbeteiligung - vor allem beim Thema Tourismusentwicklung.

"Es wäre heute höchste Zeit zum Maßhalten. Bevor man die Natur noch weiter ausbeutet, sollte man erst einmal die Bevölkerung fragen, denn die ist die eigentliche Besitzerin unserer Landschaft - nicht einzelne Interessenten." Statt dessen werde versucht, den weiteren Ausbau der Fremdenverkehrskapazitäten klammheimlich durchzuziehen. "Man spricht offiziell von Modernisierung und denkt dabei nur an noch größere Liftanlagen. Davon soll die Bevölkerung nichts erfahren, denn sonst gibt es Lärm - und den will man vermeiden."

Als dramatisch empfindet auch Edgar Moroder die Veränderungen der letzten 30 Jahre, sieht doch der Heimatforscher die vielfältigen Zerstörungen vor dem Hintergrund der Jahrtausende alten Geschichte Grödens. "Aus dieser Tradition heraus müssten wir um einiges verantwortungsvoller mit unserer Heimat umgehen. Insbesondere, da dieses Tal das einzige ist, in dem wir Grödner unsere Sprache und Kultur auch für künftige Generationen bewahren können."

Der Autor ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist.

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