Thema: Gottes Gericht
Die Idee vom Jenseits als Gericht hat sich in fast allen islamisch-theologischen Denkschulen etabliert. Alle sind sich einig, dass das Jenseits ein Ort der Belohnung und der Bestrafung ist. Es gibt einen doppelten Ausgang dieses Gerichts, entweder Hölle oder Paradies.
Diese Denkschulen haben die Vorstellung, dass der Gerichtstag notwendig sei, um die göttliche Gerechtigkeit zu vervollständigen. Ihre Argumentation lautet: Es gibt Menschen auf der Erde, die Schlechtes tun, dafür aber nicht bestraft werden. Umgekehrt gäbe es Menschen, die Gutes tun, ohne dafür belohnt zu werden. Gott müsse daher für Gerechtigkeit im Jenseits sorgen.
Gott hat sich aber im Koran zu mehr als nur zur Gerechtigkeit verpflichtet: In Sure 6, Vers 12 heißt es „Gott hat sich selbst der Barmherzigkeit verpflichtet, er wird euch zum Tag der Auferstehung wieder versammeln.“ Gott hat sich im Koran also der Barmherzigkeit – und dies im Zusammenhang mit dem Jenseits – verpflichtet. Das Jenseits ist somit Offenbarung seiner Barmherzigkeit. In einem Hadith heißt es: „Gott hat seine Barmherzigkeit in 100 Teile geteilt, auf die Erde hat er nur einen Teil davon geschickt. Das ist der Teil, der seinen Ausdruck in der Liebe zwischen Eltern und Kind sowie in der zwischenmenschlichen Liebe findet, die anderen 99 Teile hat er für das Jenseits aufgehoben.“
Es stellt sich aber die Frage, wie die Bestrafung und das ewige Verweilen von Menschen in der Hölle mit der Barmherzigkeit Gottes vereinbar sein kann. Offenbart sich Gott im Jenseits als Richter? Wenn ja, wie lässt sich ein Gottesbild als Richter, der auch bestraft, mit seiner Liebe vereinbaren? Inwieweit ist die Vorstellung vom Gericht Gewalt-imprägniert? Und welche Bedeutung hat das Gericht für unser Alltagsleben?
Ich bin auf die Reaktionen meiner Kolumnenkolleg/inn/en gespannt.
* Der Autor ist Islamwissenschafter und Imam in Wien
