Streit über die Erinnerung

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In Doron Rabinovicis neuem Roman streiten Zwei Intellektuelle über das heikle Thema Erinnerungskultur.

Es wird gestritten und polemisiert, ein Artikel ruft einen Gegenartikel hervor, die Köpfe laufen heiß, die Emotionen auch, es geht um nichts Geringeres als die Neudefinition unserer Welt. Man sucht sich einen Gegner, gegen den man seine Stellung behaupten kann. Zwei Männer geraten auf diese Weise aneinander, zwei Kopfmenschen, die die Welt über das Denken erfahren.

Ethan Rosen sitzt im Flugzeug und verfolgt keinen weiteren Gedanken, als seine Arbeit voranzutreiben. Er steckt voller Pläne, so sieht einer aus, der mit beiden Beinen in der flüchtigen Welt der Theorie steht. Der andere, Rudi Klausinger, verfasst einen Nachruf auf einen Intellektuellen und bezieht sich auf einen Artikel Ethans, sodass dieser in ein schiefes Licht gerät. Eine intellektuelle Feindschaft wird so beschlossen, die beiden verbeißen sich einen ganzen Roman lang ineinander. Das funktioniert deshalb so gut, weil Doron Rabinovici, nach dessen Pfeife die beiden tanzen, ihnen die Höchststrafe aufhalst. Sie zerfleischen sich über das Thema Auschwitz und die Erinnerungskultur, ob und wie man der Jugend diese Geschichtslast aufhalsen darf oder ob man als Nazi gilt, wenn man findet, dass endlich einmal Ruhe sein muss.

Solche Gedanken sind nicht absolut, sie verändern ihren Charakter. Wenn sie ein jüdischer Intellektueller in Israel veröffentlicht, wirken sie dort anders, als wenn sie in Österreich erscheinen. In der einen Gesellschaft bringen sie eine Diskussion in Gang, die Juden von einem dauerhaften Opferstatus befreit, in der anderen bekommen sie eine angenehme, entschuldigende Entlastungsfunktion.

Aus der Theorie ins Leben

In diesem Setting haben sich die beiden Kampfhähne zu bewähren. Das meint man jedenfalls längere Zeit, aber Rabinovici hat anderes mit ihnen vor. Er lässt sie sich nicht austoben auf jenem Gebiet, wo sie sich am sichersten fühlen, im Reich der Theorie, er wirft sie mitten hinein ins dreckige Leben. Dort gibt es biologische Unannehmlichkeiten wie Krankheit und Tod und dort lauern die Abgründe der Abstammung und Vererbung. Jetzt wird es heikel, denn gerade mit solchen Kategorien begründeten die Nationalsozialisten ihre Vernichtungswut.

Die beiden, die sich in Wien um den gleichen Lehrstuhl bewerben, treffen in Tel Aviv aufeinander, wo ihre Familienherkunft zur Disposition steht. Sie scharen sich um den Auschwitz-Überlebenden Felix Rosen – wie, könnte er gar der Vater beider Kontrahenten sein? Rabiovici legt sich mächtig ins Zeug, um eine Verwirrungsgeschichte zu inszenieren, die mit zwingender Gesetzmäßigkeit abläuft. Am Ende siegt die Brecht’sche Botschaft des „kaukasischen Kreidekreises“. Eine Eltern-Kind-Beziehung definiert sich nicht über die Abstammung, sondern über Nähe, Zuneigung, vor allem Liebe. Über allem steht die Frage, was das eigene Ich eigentlich ausmacht und wo es herkommt. Im Vergleich zu diesem Buch wirken die Identitätsromane eines Max Frisch nahezu mickrig. Die Wahlverwandtschaften bei Rabinovici wandeln sich rasch zu Qualverwandtschaften.

Der Schluss wirkt eigenartig versöhnlich, als wollte der Autor seine Leser nicht ohne Hoffnung ins Leben entlassen. Er möchte ihnen noch mitgeben, dass jeder seinen Frieden findet, wenn er sich zu jenen Menschen bekennt, denen er sich verwandt fühlt. Plötzlich steht Rudi Klausinger, ein Kapitel zuvor noch vom Furor der Unversöhnlichkeit angetrieben, am Grab des toten Felix Rosen und spricht pathetische Worte. Dramatisches Tremolo, Schluss aus.

Das will nicht recht passen zu dem, was vorher alles mutig attackiert wird. Felix Rosen, ein Held der Aufbaugeneration, steht stellvertretend für die Pioniere des Staates Israel. Und die „wollten aus Luftmenschen Kämpfer machen. Aus Kaffeehausjuden Bauern“. Das funktionierte nicht, man gründete eine Existenz auf Lebenslügen. Rabinovici verdonnert seine Figuren aber zu einem herzhaft friedlichen Ende, an dem sie noch zu beißen haben werden.

Andernorts

Roman von Doron Rabinovici Suhrkamp 2010

285 S., geb., e 20,00

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