Vom Ideal zum Ich

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Vor 800 Jahren wurde der steirische Minnesänger Ulrich von Lichtenstein geboren.

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Vor 800 Jahren wurde der steirische Minnesänger Ulrich von Lichtenstein geboren.

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Er entstammte einem vornehmen Geschlecht, war Ministeriale, also hoher Beamter (Truchsess) am Hof. Der bedeutende Germanist Fritz Martini bezeichnet ihn als Landeshauptmann der Steiermark. Ulrich von Lichtenstein, der vor 800 Jahren geboren wurde, war ein mächtiger, ein anerkannter Mann; zudem aber durch ein Werklein ganz eigener Art in der Literaturgeschichte verewigt. Es nennt sich "Frauendienst", dürfte etwa 1255 entstanden sein und ist die erste Selbstbiographie in deutscher Sprache genannt worden.

Keine Selbstbiographie allerdings nach unserer geläufigen Auffassung, sondern Ulrich möchte uns nur mit einem einzigen Bereich aus seinem Leben vertraut machen: seinen Erfahrungen dessen, was in der hochhöfischen Dichtung "Dienst an der Frau" genannt wurde. Er möchte ein Vorbild dafür geben, wie sich, nach seiner Überzeugung, ein "Frauenritter" zu verhalten habe.

In die Memoiren seines ritterlichen Minnelebens, die epischen Charakter haben, sind, in Form von zwei Zyklen, rund 60 Lieder eingebaut, die zwischen 1220 und 1250 entstanden sein dürften und an zwei verschiedene Damen gerichtet sind. Eingeschoben zwischen die beiden Zyklen ist eine Gruppe von Scheltgedichten, in denen der Autor den Bruch mit der zuerst besungenen Dame beklagt. Seine Vorbilder sind die Meister des Minnesangs: Walther von der Vogelweide, Reinmar von Hagenau. Ulrich versucht sich zwar am Idealismus der hochhöfischen Zeit zu orientieren; aber die Geistbetontheit der mittelhochdeutschen Klassik ist unwiederbringlich im Schwinden begriffen. Nicht mehr das Ideal, sondern das Ich steht im Zentrum.

Details des Lebens In einer naiven Unmittelbarkeit stellt der Verfasser sein Leben als vorbildhaft gemeinte Stilisierung des Frauendieners wie Minnesängers dar. Dabei bleibt die sublimierte Poesie der Vorbilder auf der Strecke; Verhaltenheit, Zartheit und dezente Andeutung sind die Anliegen Ulrichs nicht. Und es hat auch wenig Sinn, ihn an den Großen der hochhöfischen Lyrik zu messen. Denn bei ihm kommt etwas Neues zum Durchbruch, das jeder Idealismus von sich aus scheut, ja ablehnt: Es ist das Wichtignehmen der kleinen, derben, bisweilen komisch, ja peinlich und frivol anmutenden Realitäten.

Ulrich will glaubhaft berichten, wie es ihm in der Zeit seines Minnedienstes ergangen, was ihm alles passiert ist. Und da vernehmen wir allerdings Dinge, die der vorigen Generation nicht zum Beschreiben in den Sinn gekommen wären: etwa dass der Verfasser davon berichtet, dass er das Wasser trinkt, in dem sich seine Angebetete die Hände gewaschen hat; dass er sich den Finger, den er sich im Turnier gebrochen hat, abhackt und ihn als Zeichen seiner Unterwürfigkeit an seine Dame schickt; dass er, in einem Burggraben kauernd, auf ein Zeichen von "ihr" wartet - und der Vogt schlägt während seiner nächtlichen Inspektionsrunde ahnungslos über ihn sein Wasser ab. Solche und ähnliche Szenen, die das Büchlein Ulrichs prägen, mögen von der Haltung her vielleicht noch dem Geist des Minnesangs sich verpflichtet fühlen; die Art der Darstellung aber zeigt, dass eine andere Epoche angebrochen ist, die mit einer gewissen aufdringlichen Ehrlichkeit auf die komisch, ja anstößig wirkenden Details des Lebens hinweist. Der späthöfischen Gesellschaft muss eine frische Robustheit des Fühlens und Verhaltens geeignet haben, die mit den zarten Formidealen der Klassik nicht mehr vereinbar war. Das Leben als buntes, zirkusähnlich anmutendes Spiel, als oft ver-rücktes Treiben drastisch als auch plump wie ehrlich-gutgläubig darzulegen: Das war wohl das Anliegen Ulrichs von Lichtenstein, der um 1275 verstorben ist.

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