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Luxusliner prallt gegen Eisberg

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Ist es den Chinesen zuzutrauen, Hong Kong so zu regieren, daß es weiterhin prosperiert? - So lautet die Schlüsselfrage zum Handover am 1. Juli, null Uhr. Und - wie wird es der Bevölkerung dabei ergehen?

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Ist es den Chinesen zuzutrauen, Hong Kong so zu regieren, daß es weiterhin prosperiert? - So lautet die Schlüsselfrage zum Handover am 1. Juli, null Uhr. Und - wie wird es der Bevölkerung dabei ergehen?

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Die meisten, die Einflußlosen, können sich keine Nervosität wegen der Übergabe leisten, der Alltag verlangt ihnen alles ab. Der Alltag, das ist in den unteren Regionen der Hong Konger Gesellschaft ein eiserner Konkurrenzkampf in großer Enge. Anders in der teuren, sauberen Luft der hauchdünnen Oberschicht. Dort ist man zwar wachsam, aber nicht mehr in Panik, wie noch vor einem Jahrzehnt. Die Chefs der größten chinesischen Clans der Stadt sind sich einig: man würde mit den neuen chinesischen Herren gut zusammenarbeiten. Ob Zweckoptimismus oder Liebdienerei: so eine Einstellung braucht jeder, der hier nach dem 1. Juli Geld verdienen möchte. Die Möglichkeiten dazu scheinen nicht schlechter zu werden, der Hang-Seng-Index der Hong Konger Börse ist hoch gestiegen an diesem sensibelsten Ort der Zeitgeschichte, an dem westliche und östliche Vorstellungen so unmittelbar aufeinanderstoßen.

Von den vielen tausend, die kein Vertrauen in die Chinesen setzen oder gar Angst vor ihnen haben, sind die meisten schon abgereist. Nach dem Tiananmen-Massaker 1989 erhielten 225.000 Angehörige der Hong Konger Elite erstklassige britische Pässe. Sie waren damit „British Citizens” und konnten reisen, wohin sie wollten. Alle anderen haben nur einen zweitklassigen britischen Paß, sind nur „British Overseas Citizens” und müssen bleiben. Vielen von ihnen schien es, als pralle der Luxusliner Hong Kong gegen den chinesischen Eisberg, und es gab nicht genügend Bettungsboote.

Sperrstunde

Noch einen Monat vor der Übergabe fanden Kundgebungen zum Jahrestag des Tiananmen-Massakers statt. Das zeigt, daß sich die Hong Konger Bevölkerung nicht so einfach schlucken lassen möchte. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge vor dem chinesischen Kommunismus beziehungsweise deren Nachkommen und würden sich mehrheitlich lieber weiter von den Briten regieren lassen, zeigen jüngste Umfragen. Doch die Geschichte geht darüber hinweg.

Währenddessen geht das britische Leben der Sperrstunde entgegen. Vom Hong Kong Club, dem feinsten Club hier, der vier Geschoße in einem vornehmen gläsernen Wolkenkratzer einnimmt, blicken Kolonialbeamte wehmütig auf die Stadt, deren Schicksal sie seit Jahrzehnten bestimmten. „Wir sind koloniale Dinosaurier”, ist ein verbürgtes Bonmot eines der älteren Herren. Britischer Humor ist ein Allheilmittel, hilft bei Dauerregen, Liebeskummer und bei kolonialen Abschieden.

Tee und Seide waren erwünschte Güter im England des 17. Jahrhunderts, in dem der Chinahandel begann. Doch im Tauschhandel zogen die Chinesen englisches Silber englischen Waren vor, die sie oft und hochnäsig als minder betrachteten. Als das englische Silber knapp wurde, lösten die Kaufleute das Problem, indem sie das von den Chinesen begehrte Opium nach China schmuggelten, es gegen Silber tauschten, und dieses wiederum gegen Tee und Seide. Allerdings schmuggelten sie das Opium in solchen Mengen, daß die Drogensucht in China zu einer Bedrohung des Staates wurde; zahlreiche Beamte, vor allem in den Südprovinzen, waren süchtig geworden. Die chinesische Regierung sah im Opium ein gefährliches Schmuggelgut, den Briten war es einfach Handelsware. Diese Differenz führte zu zwei Opiumkriegen. Als die Chinesen große Mengen Opiums beschlagnahmten und verbrannten, war das für die Briten Baub und Kriegsschiffe waren die Antwort. Als Folge davon wurde 1842 die Insel Hong Kong an England abgetreten. Nach dem zweiten Öpiumkrieg 1860 fielen die Halbinsel Kowloon und Stonecutter Island an die Briten. 1898 wurden ein großer Festlandsteil, mehrere Inseln und die zugehörigen Territorialgewässer auf 99 Jahre gepachtet. Die britische Kolonie war nun etwa 45 mal 45 Kilometer groß. Mit dem gepachteten Land wird Hong Kong und Kowloon mit zurückgegeben, weil es allein nicht lebensfähig wäre.

Hong Kong hatte seit dem Zweiten Weltkrieg eine Sonderstellung in Asien. Bingsum fielen die Kolonien, in China kam die Revolution, doch in Hong Kong blieb alles ruhig und britisch. Obwohl militärisch kaum zu verteidigen, wurde es von Maos Revolutionstruppen nicht angegriffen. Denn Hong Kong war seit dem Zweiten Weltkrieg Chinas Brücke zur Welt. Schon Mao Zedong umging dort die Handel-. sembargos des Westens, und Deng Xiaopings chinesisches Wirtschaftswunder nahm dort seinen Ausgang - es folgte dem Hong Kon-ger Wirtschaftswunder im Kiel1 wasser. Drei der fünf wirtschaftlichen Sonderzonen, dieser Versuchslabors des chinesischen Kapitalismus, waren um die Kolonie herum angeordnet. Das Ti-ming war perfekt. Gerade zu der Zeit, als in Hong Kong die Arbeit teurer und der Boden knapp wurde, setzte Ende der siebziger Jahre die chinesische Modernisierung ein. Unqualifizierte Arbeit wurde nach China ausgelagert, wo Arbeitskräfte und Boden fast nichts kosteten; um die Kolonie entstand ein Ring chinesischer Zulieferindustrie. So waren Hong Kong und Südchina schon vor der Übergabe wirtschaftlich fest verbunden. 1990 gingen 44 Prozent der chinesischen Exporte nach der Kron-kolonie, zwei Drittel der Auslandsinvestitionen in China kamen von dort, und umgekehrt ist China seit 1991 der größte Auslandsinvestor in Hong Kong.

Autonomie

In Peking weiß man, wie wichtig die Fortdauer von Hong Kongs Prosperität für das chinesische Wirtschaftswunder ist. Zugleich wäre ein Niedergang der Stadt unter chinesischer Herrschaft ein nicht wieder gutzumachender Gesichtsverlust der Chinesen vor aller Weltöffentlichkeit. China hat vorgesorgt und Hong Kong, gemäß der Formel „Ein Land, zwei Systeme”, mit einem „hohen Grad an Autonomie” ausgestattet ^kapitalistisches System für fünfzig Jahre garantiert; eigene, frei konvertierbare Währung; freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital; Sicherung der Eigentumsrechte; eigene Polizei und Steuerhoheit; eigenes Höchstgericht; die Regierenden werden aus seit mindestens zehn Jahren Ortsansässigen ausgewählt, müssen aber von Peking bestätigt werden).

Peking wird die Gans, die goldene Eier legt, nicht schlachten. Jedenfalls nicht absichtlich. Das kritische Moment ist dabei gar nicht die kommunistische Verfassung Chinas, die ohnehin stetig von der neokapitalistischen Wirklichkeit entkräftet wird. Es ist die China verheerende Korruption — selbst höchste Stellen nennen sie „staatsgefährdend” - und die damit verbundenen Machtkämpfe von Parteikadern, denen das Staats- und Parteiwohl gleichgültig ist.

Rechtssicherheit?

Würden sich diese chinesischen Verhältnisse auch nach Hong Kong ausbreiten, sie würden den gegenwärtigen Knotenpunkt der Weltwirtschaft zu einem unsicheren Ort machen. Es war die Rechtssicherheit unter der erstklassigen britischen Verwaltung, die eine wesentliche Grundlage für den Erfolg Hong Kongs darstellte. Politische Willkür aber würde Unberechenbarkeit bedeuten, und das könnte die Stadt in den Abgrund ziehen.

1995 wurden, nach demokratischen Reformen, Wahlen in der Kronkolonie abgehalten. Es war ein Wettstreit der Systeme, demokratische und chinafreundliche, Parteien traten gegeneinander an. Schiedsrichter war die Hong Konger Bevölkerung, die nun die Wahl hatte zwischen der „Last-minute-Demokra-tie” (China über das britische Hong Kong) und dem „Laisser-faire-Stali-. nismus” (Hong Kong über China). Tatsache ist, daß dabei sechs Millionen Hong Konger das westliche System der zivilen Rechte und der Toleranz kennengelernt haben. Mit der Übergabe wird das autoritäre Pekinger Regime theoretisch mit einem Schlag sechs Millionen demokratische Erfahrungen importieren.

Bei den Wahlen siegte die demokratische Partei haushoch. Deren Spitzenkandidaten, den Anwalt Martin Lee, nannte Peking gleich darauf ein „subversives Element”. Nach dem 1. Juli wird er wohl, wie viele Demokraten, im Ausland weiterarbeiten müssen. Im April '97 traf Lee mit Bill Clinton zusammen. In den USA spendet man für die Hong Konger Demokraten und denkt - wieder einmal - über die Meistbegünstigungsklausel für China nach ...

Unlängst wurde die neue Brücke zum ebenfalls neuen Flughafen Chek Lap Kok eröffnet. Mit acht Autobahnspuren, zwei Eisenbahngeleisen und einem Biesenfeuerwerk war er sozusagen das Abschiedsgeschenk der Briten. Hoffen wir, daß diese neue Brücke zum Symbol dafür wird, daß Hong Kong weiterhin Chinas Brücke zur Welt sein wird.

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