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Verlust des liberalen Potentials durch Holokaust

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Mit der Französischen Revolution waren sie zu Geschwistern -geworden, der Liberalismus und das Judentum. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Aufklärung, Emanzipation und Menschenrechte: die zentralen Anliegen des Liberalismus mußten dem jahrhundertelang ausgegrenzten und verfolgten Judentum - zumindest den städtischen, intellektuellen Juden - paradiesische Perspektiven eröffnen.

Eindrucksvoll belegte der Historiker Julius Schoeps beim Symposion „Judentum und Liberalismus”, einer gemeinsamen Veranstaltung des Jüdischen Instituts für Erwachsenenbildung und der Wiener Urania, mit welchem Elan sich deutsche Rabbi -ner im 19. Jahrhundert engagierten, um das Judentum den neuen Möglichkeiten anzupassen. Vor allem der

Berliner Aaron Bernstein gilt als Exponent des politischen Liberalismus in Preußen, war in der Bevolution von 1848 sehr aktiv und fühlte sich dem Linksliberalismus verbunden.

Ziel der Engagierten im Beform-judentum war es, Deutsche und Juden sein zu können. Daß der Großteil des deutschen Judentums, dem die Konzessionen zu weit gingen, gegen sie war, hatte allerdings nicht dieselbe Tragweite wie die Tatsache, daß die deutsche Gesellschaft von den Juden tatsächlich Assimilation und nicht Integration erwartete.

Viel komplizierter gestaltete sich die Überschneidung Liberalismus und Judentum in Osterreich. Der Politologe Alfred Gerstl, der seine Dissertation über den Liberalismus in Osterreich verfaßt hat, machte deutlich, daß es hier gerade die große Beteiligung der Juden an der Bevolution von 1848 war, die den ungeliebten Liberalismus zusätzlich als jüdisch

diskriminierte. Wer in Österreich antiliberal war, war gleichzeitig antijüdisch; daran hat sich bis weit ins 20. Jahrhundert nur wenig geändert.

Judenvertreibung

Noch pointierter sprach schließlich Politologe Anton Pelinka über die Zerstörung des Liberalismus durch die Zerstörung des Judentums. Der Antisemitismus hatte in Osterreich eine Etablierung des Liberalismus im bürgerlichen Lager von vornherein verhindert.

Er vertrieb die Juden als wesentliches liberales Potential mit seinem expliziten Antisemitismus aus dem liberalen Lager - einerseits zu den Zionisten und andererseits zu den Austromarxisten, die wegen ihrer „nur” implizit antisemitischen Einstellung das kleinere Übel blieben. „Liberale”, so Pelinka, „müssen sich, wenn sie glaubwürdig sein wollen,

dem Verlust des liberalen Potentials durch den Holokaust stellen. Und die Vertreter des Liberalen Forums müssen sich die Frage stellen, wie sie bis 1993 bei der FPÖ sein konnten.”

Dem informativen und spannenden Nachmittag folgte eine deprimierende Politikerrunde: Boris Märte (ÖVP), Volker Kier (LF), Hans König (SPÖ) und Sonja Puntscher-Rieckmann (Grüne) nahmen, moderiert von Peter Huemer, zwar verdienstvoll zur Vergangenheit Stellung, blieben politische Perspektiven jedoch in jeder Hinsicht schuldig. Als diese vom Publikum eingefordert wurden, beklagten sie das gesellschaftspolitische Klima, das jegliches Engagement in jüdischen Fragen behindere, wenn nicht unmöglich mache - aus Angst vor der „Kronenzeitung”!

Liberalismus und Judentum werden in Österreich wohl weiterhin getrennte Wege gehen müssen.

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