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Österreichs Volksfaust

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Eine verkannte Kostbarkeit! Ja, das ist dieses Faustbüchl des Salzburgers Alois Gras-mayr. Nicht, weil er ein Leben darangesetzt hat, den Faust volkstümlich zu machen, seine Mären und Mysterien dem Volk zu sagen, dem er vortrefflich „aufs Maul zu sehen“ weiß. Nicht, weil viele zünftige und noch mehr unzünftige Kritiker ihn mit jener trefflichen Instinktlosigkeit abgelehnt und verurteilt haben, die eben im Lande Kraus', Fickers, Ebners beheimatet ist. Gewiß, nicht beim ersten Lesen erschließen sich Schönheit, Wesen und Wert dieses zauberhaften kleinen Büchleins. Vielleicht aber schon beim ersten Vorlesen. Dafür ist dieses Buch nämlich geschaffen — geschrieben, nein, vorgesprochen worden. Der Wanderer stecke es also in den Rucksade, in diesem Frühling und Sommer — und ziehe es erst heraus, wenn er redliche Arbeit in Schweiß und Mühe geleistet. Dann, auf einem grünen Berg, in einer blauen Mulde, nehme er langsam und bedächtig, so wie unsere Vorväter in Zeitläuften, die noch lesen und vorlesen konnten, das schmucke kleine Buch heraus und lese langsam, dem Sinn und sich selbst zu Ehren, eines der 50 Kapitel, in die hier der Faust eingeschmolzen ist. Etwa: „Da Faust kimmt zu die Leut, die alle Tag Sonntag haben“, oder „Von da geduldigen Arbeit“ — „Die brave Hausenn“ oder zu guter Letzt „Das Hoamweh“. Lese langsam, Wort für Wort, und für Sinn- zu Sinngebilde zusammen. Die österreichische Landschaft, ihr barocker Kosmos steht auf in den Schwingungen und Schwebungen, im rotbäckigen und doch noch transparenten Realismus dieser „Dorfgeschichten“, zu denen Faustens Leben hier verdichtet ist. Johann Peter Hebel, Claudius, die großen Schweizer Erzähler, sie alle kehren zu Gast ein bei dem aufmerkenden Vorleser, der den rechten langen Atem hat, um Eigensinn, Hochmut, Blasiertheit und nervösen Literatengeist aus-und abzutun — und der die Kraft hat, sich hinzugeben. Denn: es steckt erstaunlich viel Kraft, Lebenskraft und Tektonik, gebautes Sein, in diesem österreichischen Volksfaust. Und diese Kraft fordert kräftigst ein. Sie weigert sich, ihren Zauber dem Müden, Schlaffen, Zweideutigen zu erschließen. Wer Mut zur Stille, zur Sammlung, zur Klarheit hat, dem gibt sie sich hin. So gibt dieses seltsam-kostbare Büchlein erst im Umgang der Jahre die Fülle seines Inhalts dem Geduldigen preis.

Eine der seltensten Erscheinungen auf dem österreichischen Büchermarkt seit 1945.

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