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Eine Europa-Schelte

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Seit der Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus -1992 werden es 500 Jahre sein — reden und schreiben die Europäer unbekümmert über Lateinamerika. Wie aber urteilen die Lateinamerikaner über Europa?

Dieser Frage ging das österreichische Lateinamerika-Institut auf seiner traditionellen Jahrestagung (diesmal in Wien und Tulln) nach. Nicht alle Antworten fielen schmeichelhaft aus.

Das positive Klischee der Lateinamerikaner gegenüber dem Alten Kontinent ist verblaßt, nicht zuletzt wegen der Nord-Süd-Spannung, die mit dem bitteren See-Luft-Krieg von 1982 um die Falkland-Inseln für den Subkontinent handgreifliche Gestalt annahm. Anstelle von Großzügigkeit praktiziert Europa diskriminierende Marktordnungen und Knausrigkeit.

Noch hängt Lateinamerika an Europa, allerdings nicht mehr mit der Leidenschaft des Liebhabers, sondern mit der oberflächlichen Zuneigung des Enkels zur starrsinnigen Großmutter. Dieses Bild hat Curt Meyer Clason, der großartige Ubersetzer und Herausgeber aus dem Spanisch-Portugiesischen, beim brasilianischen Schriftsteller Rosa entdeckt und im Eröffnungsvortrag wiedergegeben.

Uberhaupt diese Brasilianer! Sie urteilen heute am kritischsten über Europa und beginnen dem Alten Kontinent auch schon den Rücken zuzukehren: Südostasien und das gesamte Pazifische Bek-ken sind wichtig, nicht aber dieser ausgelaugte und zudem noch arrogante Landzipfel, der Westeuropa ausmacht. Brasilianer handhaben heute ihre eigene kulturelle Autonomie und brauchen nicht mehr nach Lissabon, Madrid oder Paris zu pilgern, wie es die spanischsprachigen Lateinamerikaner immer noch tun, denen das europäische Erbe (und die europäischen Sünden) in den Knochen steckt.

In Umrissen legten die einzelnen Referenten dar, daß Lateinamerika Europa noch immer nahesteht, aber nicht mehr auf den Alten Kontinent angewiesen ist. Deswegen auch die neuen Deutungen: Europa ist für Lateinamerika von operationaler Nützlichkeit (kubanische Perspektive); Europa könnte einen brauchbaren Bündnispartner bei der machtpolitischen Neuverteilung im 21. Jahrhundert abgeben (kolumbianische und argentinische Perspektive); Europa hat als Schöpfer der Moderne den „homo industrialis“ in die Welt gesetzt, um dessen Uberwindung, als Vorbedingung für einen alternativen Entwicklungsstil, es Brasilien geht.

Anders ausgedrückt: Kein lateinamerikanischer Sprecher hielt es für angebracht, überhaupt noch die europäische Entwicklungshilfe anzusprechen. Die Erwartungen des Subkontinents bewegen sich längst auf höherer Ebene und fordern den Alten Kontinent philosophisch, politisch und kulturell heraus.

Minister Heinrich Neisser, der mit einem Referat über „Möglichkeiten kultureller und wissenschaftlicher Kooperation mit Lateinamerika“ die Tagung beschloß, parierte geschickt, indem er andeutungsweise vorschlug, die traditionelle Entwicklungshilfe durch reifere Formen der Zusammenarbeit zu ersetzen, die in ein beide Seiten befruchtendes Gespräch münden sollten.

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