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Emigration—Integration— Konfrontation

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Das kalte Paradies, in das man emigrierte, in dem man sich zu integrieren versucht, mit dessen Art und Unart man immer wieder ungewollt konfrontiert wird — das ist die Schweiz. Jenes Land, von dem mehrere Autoren dieses Buches sagen, es ähnele einem riesigen Zuschauerraum, von dem aus ohne Gefahr das Ende des Stücks abgewartet werden kann. Die Tschechen aber, vor allem ihre Intelligenz, waren notgedrungen immer auf der Bühne. Wechselte der Regisseur, änderten sich auch die Rollen — immer aber waren sie exponiert. Nun sitzen sie mit im eidgenössischen Zuschauerraum und versuchen, sich an diese Rolle ohne Partitur zu gewöhnen.

Elf Autoren, nur einer — Professor Lochman — kein Flüchtling. Alle sind Tschechen, kein Slowake dabei, alle sind Prager, keiner stammt aus der Provinz. Alle sind Intellektuelle vor allem und noch meistens in schreibenden Berufen. Eine Elite also, kein, wie man so demoskopisch schaurig-schön sonst sagt, repräsentativer Durchschnitt. Aber durchschnittliche Menschen bleiben ohnehin lieber am Herd, statt das Wagnis der Emigration auf sich zu nehmen. Wer anders aber, als der, dem das Schreiben gegeben ist, kann sich schriftlich zu der Anregung des Herausgebers äußern, den Grad seiner Assimilation oder gar schon seiner Integrierung an und in die Schweizer Wohlstandsgesellschaft mitzuteilen?

Elf für 13.000, das ist knapp ein Promille. Diese anderen Tausend aber erkennen sich gleichfalls wieder in dem Spiegel, den jeweils nur

einer von ihnen emporhält. Der Schweizer Leser, sofern er nur den guten Willen hat, findet sein Bild gleichfalls unschwer ohne Verzerrungen, aber auch ohne Beschönigungen. Nur selbstgerechte Empfindlichkeit wird den Autoren vorwerfen, Dankbarkeit gebiete immerwährende Gebärde der Demut. Ein Land ohne Spiegel, wie es der österreichische Dramatiker Elias Canetti in einem seiner Stücke prophezeit, entartet zur Oase der Pharisäer. Hier, im „Kalten Paradies“, werden wir durch beides erschüttert: die Tragik, ein Flüchtling zu sein, und die Versuchung, jeweils seine Heimat unkritisch für die beste oder superkritisch für die verworfenste zu halten. Flüchtlinge in der Schweiz, Minderheit in einem Land voller Minoritäten — es ist gut, daß ihre Stimme mehr als vier Jahre nach dem großen Exodus zu Gehör kam. Für beide gut: auch für die Schweizer.

DIE TSCHECHEN UND DIE SCHWEIZ: Verlag Huber-Frauenfeld. 175 Seiten, sFr. 17.—.

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