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Neue Visionen von Solidarnosc

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Heraus aus dem Untergrund, Dialog mit der Regierung, weg von Korruption und Unehrlichkeit und Meinungsbildung auf breitester Basis — das sind im wesentlichen die Vorgaben, mit denen der von Lech Walesa Ende September gegründete „Provisorische Rat von Solidarnosc“ angetreten ist. Die polnischen Behörden haben prompt reagiert. Bereits nach zehn Tagen wurde der Rat verboten.

Das siebenköpfige Gremium des Provisorischen Rates — ihm gehören Zbigniew Bujak, Bogdan Borusewicz, Bogdan Lis, Wlady-slaw Frasyniuk, Jozef Pinior, Ta-deusz Jedynak und Janusz Palu-bicki an - hat der Regierung Gespräche angeboten. Gespräche, die zu einer nationalen Versöhnung beitragen sollen. Ein Zeichen für die Bereitschaft, offen mit der Regierung sprechen zu wollen — so eine Mitarbeiterin des Rates gegenüber der FURCHE -, ist das Heraustreten aus dem Untergrund. Nach Arbeiterführer Walesa könne jeder, der im Untergrund weiterarbeiten wolle, dies auch tun. Das siebenköpfige Gremium arbeitet jedenfalls „dekonspirativ“.

Und tatsächlich — so hört man aus Polen — sind in Lodz und Lu-blin viele Solidarnosc-Mitarbei-ter aus dem Untergrund herausgetreten.

Die Mitarbeiterin des Provisorischen Rates betonte, daß Soli-darnosd jetzt einen „friedlichen Dialog“ mit dem Staat anstrebe. Die Amnestie für politische Gefangene — „eine für die Regierung äußerste Maßnahme“ - bedeute für Solidarnosc „nur einen ersten Schritt“.

Amnestie könne nicht heißen, daß die freigelassenen Solidar-nosc-Mitglieder von nun an Privatleute sind, wie das die Regierung gern sähe. Das neugegründete Gremium ist gewissermaßen die Antwort von Solidarnosc auf die Amnestie.

Solidarnosc, sagte die Rats-Mitarbeiterin, ist gegenwärtig „nicht mehr bloß eine politische Angelegenheit“. Solidarnosc bedeute in Polen ein Aufmerksammachen auf Ethik, Moral, Ehre, Anstand und Menschenwürde. Die Strategie des Rates laufe also in die Richtung, ein korruptes System aufzuweichen, den Menschen zu einem „Subjektbewußtsein“ zu verhelfen, das es ermögliche, Entscheidungen zu treffen.

Der Kampf geht also um eine Ermöglichung der Eigeninitiative, gegen die politische Maxime: Man darf alles tun, aber nur mit Genehmigung.

Gegenwärtig sei die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Lage Polens „so dramatisch“, daß „man etwas aufzuzeigen beginnen muß, das Sinn hat, das eine Vision ist“. Der „Provisorische Rat von Solidarnosd kontra Apathie und Resignation.

Die Rats-Mitarbeiterin gibt sich überzeugt, daß es auch in der Regierungselite, auf Expertenr ebene, in Polen Menschen gibt, denen die „unheimlich kritische Lage Polens“ bekannt ist; die wissen, daß sie nicht mehr in der Lage sind, ohne die Gesellschaft etwas zu tun.

Und mit diesen Menschen möchte Solidarnosc jetzt den Dialog aufnehmen. Bedingung dafür ist, daß die Identität von Solidar-noSc nicht aufgegeben werden muß.

Schwierigkeiten für dieses Dialog-Angebot erwachsen Solidarnosc auch aus den eigenen Reihen. Viele sind der Ansicht, daß man mit diesem Regime nicht dialogisieren kann und soll.

Und damit hat der Provisorische Rat ein weiteres Betätigungsfeld: Meinungsbildung auf breitester Basis. Der Rat als Vordenker des Dialogs, als Wegbereiter des Gesprächs der gesellschaftlichen Kräfte.

Den Ansatzpunkt für das Gespräch bildet die politische Konstellation in der Sowjetunion. Der Provisorische Rat von Solidar-nos6 ist von der Einsicht Parteichef Michail Gorbatschows überzeugt, daß es so, wie bisher, in den kommunistischen Staaten nicht weitergehen kann.

Der Provisorische Rat von Solidarnosc optiert daher für ein Gesellschaftsmodell, das anders sein muß als die herkömmlichen Systeme in Ost und West. Man will auch vom Westen „nichts übergestülpt bekommen, selbst wenn es gut ist“.

Man will die Vorbedingungen dafür schaffen, „daß das polnische Volk selbst über sich entscheiden kann“. Gleichzeitig arbeitet das Gremium auch an einer Neubestimmung des Verhältnisses von Polen und Europa; ein Faktum, das im Lichte des Gesprächsangebots an die Regierung gesehen und bewertet werden muß.

Ein „Staat ohne Lüge“ - so der Philosoph und Theologe Jozef Tischner vor kurzem in Wien —, das schwebt Solidarnosc vor.

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