Angenommen, das Ziel einer großen Anzahl von Menschen sei wirklich gesund zu sein, so wie sie es behaupten. Der Weg dorthin scheint klar - Religion und Medizin geben aus unterschiedlichen Gründen, aber aus ähnlicher Erfahrung die gleiche Antwort: durch Verzicht. Verzicht auf Kilokalorien zum Beispiel, denn zu viele führen zu Fettleibigkeit, Gefäßverkalkung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen usw. Manche sagen dazu "Askese", weil in diesem Begriff auch das Ziel steckt, ein besserer Mensch zu werden, was auch positive Wirkung auf die Gesundheit haben kann - bessere Menschen fühlen sich oft besser.
Angenommen also, alle täten so tun wie sie sagen oder wollen. Das müsste doch die Welt verändern, oder? Das müsste sogar denen wieder eine Chance auf ein würdiges Dasein geben, die nicht in der Lage sind, am Wohlstand anders teilzuhaben als durch Fressen, oder? Das müsste vielen auch wieder die Freiheit geben, sich mit was anderem zu beschäftigen als dem eigenen Schlechtbefinden, oder? Und, um nur eine einzige gesellschaftspolitische Konsequenzlinie anzusprechen, dann würden wir auch weniger Krankenhäuser, Rehab-Zentren, Frühpensionierungen und Versicherungsbeiträge zahlen müssen - zumindest in Österreich, denn woanders gibt's das eh nicht in solcher Fülle, und das wär' doch gut, oder?
Apropos Verzicht: Angenommen, Freud habe Recht, dass die besonderen kulturellen Leistungen auf Sublimierung des Sexualtriebs zurückzuführen seien, dass also auch auf dieser Ebene im Verzicht und nicht im Ausleben ein Schlüssel zu glückhafter menschlicher Größe liege. Und angenommen, die Mehrzahl der Österreicher würde dieser Auffassung zustimmen. Dann würde man sogar über den Zölibat wieder gut reden dürfen.
Der Autor ist Wissenschaftlicher Direktor der Joanneum Research Forschungsgesellschaft in Graz.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!